Inklusion in NRW’s Schulen

Carina T
„*Lehrer betritt die Klasse und setzt sich.*
Lehrer: Guten Morgen zusammen!
Schüler: Morgen.“
Tims Finger fliegen über diesen Text: den typischen Beginn einer Unterrichtsstunde. „Ich gelte seit Sommer 2016 als gesetzlich taubblind, deshalb nehme ich den Alltag der Klasse hauptsächlich durch meine Schriftdolmetscher wahr“, sagt der 17-jährige, der seit der fünften Klasse das Wirteltor-Gymnasium in Düren besucht. „Wir sind im Unterricht immer dabei und schreiben alles auf, was gesagt wird“, ergänzt einer seiner Schriftdolmetscher.
Zur gleichen Zeit in Hagen. Die 14-jährige Nejla verzweifelt gerade bei einer Matheaufgabe. „Ich fühle da aber keine vierte Kerze auf der Abbildung“, sagt sie zu ihrer Förderlehrerin. Nejla kann nur Farben und Umrisse erkennen und gilt daher als gesetzlich blind. Somit gehören Tim und Nejla zu den 25% der Schüler mit einer Sinneseinschränkung, die in Nordrhein-Westfalen eine Regelschule besuchen.
Auch Lisa (17) hat es mit der Inklusion versucht. „Die Lehrer haben mir irgendwann keine vergrößerten Arbeitsblätter mehr gegeben und ich sollte Bilder beschreiben, die ich nicht erkennen kann“, sagt das sehbehinderte Mädchen. Deshalb besucht sie seit der 8. Klasse eine Förderschule und wird dieses Jahr ihr Fachabitur an der deutschen Blindenstudienanstalt (Blista) in Marburg machen.
Knapp 1,9 Millionen Schüler gibt es in NRW. Von ihnen haben 136.359 eine Behinderung. 7% dieser Schüler sind hör- oder sehbehindert. In der Politik ist Inklusion schon lange ein Thema, vor allem seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. Viele Betroffene wünschen sich, stärker in Inklusionsentscheidungen einbezogen zu werden. Die Frage ist: Kann die Inklusion sinnesbehinderter Schüler gelingen? Und was braucht es für eine erfolgreiche Inklusion?
Die Entscheidung für die allgemeine Schule
Seit das neunte Schuländerungsgesetz im Jahr 2013 in Kraft getreten ist, haben Eltern die freie Wahl, ob ihr Kind eine allgemeine Schule oder eine Förderschule besuchen soll. „Den Eltern muss immer eine allgemeinbildende Schule vorgeschlagen werden, die ihr Kind besuchen kann“, weiß Dr. Birgit Drolshagen von der Technischen Universität Dortmund. Die Rehabilitationswissenschaftlerin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Inklusion.
Für Eldina Klein, Nejlas Mutter, war sofort klar: „Mein Kind geht auf eine Regelschule. Schließlich gibt es keine Blindenwelt und keine Blindenberufe. Wenn Nejla mit nicht-behinderten Kindern zur Schule geht, wird sie auf das spätere Leben vorbereitet.“ Oliver Rien, Psychologe aus Husum, stimmt ihr zu: „Schüler mit Handicap, die eine Regelschule besuchen, haben deutlich mehr Übungsmöglichkeiten und wissen, was sie später erwartet.“ Außerdem lernen die Kinder so, sich bereits früh mit ihrer Behinderung auseinanderzusetzen und diese zu erklären.
Ganz anders war es bei Tim aus Düren: „Tim wusste sehr früh, was er wollte. Deshalb haben wir ihm ab der fünften Klasse die Entscheidung überlassen. Schließlich gibt es an jeder Schule Probleme und es ist Tim, der es aushalten muss, wenn zum Beispiel Materialien fehlen“, sagt Tims Mutter, Marion Böttcher. Otmar Köndgen, der Vater von Lisa, wollte seiner Tochter diese Entscheidung nicht alleine überlassen: „Wir haben zwar mit Lisa über ihre Vorstellungen gesprochen, aber entschieden haben wir letztendlich selbst.“
Wie die Inklusion läuft
Ob die Entscheidung für die Inklusion die richtige war, stellt sich erst im Laufe der Zeit heraus. „In der Grundschule lief es gut und Lisa wurde gut integriert, aber in der Gesamtschule haben wir schnell gemerkt, dass es nicht klappt“, erinnert sich Lisas Vater. Die Eltern mussten die Lehrer ständig daran erinnern, ihrer Tochter vergrößertes Material zur Verfügung zu stellen. Auch die Unterstützung einer Sonderpädagogin der Blindenschule Düren war nicht besonders hilfreich. Familie Köndgen hatte die Gesamtschule damals ausgewählt, weil diese seit vielen Jahren inklusiv arbeitet. „Aber leider gab es keine Expertise, was das Thema Sehen betraf“, erklärt der Familienvater. „Damals schwankte meine Sehkraft noch. Das heißt, ich hab immer unterschiedlich gut gesehen. Deshalb dachten einige Lehrer, ich simuliere und das überträgt sich dann natürlich auf die Mitschüler“, erzählt Lisa. „Und wenn du mitbekommst, dass die ganze Klasse eingeladen wird und nur du nicht, das ist echt ein blödes Gefühl“, ergänzt sie.
Psychologe Oliver Rien erläutert, dass Schüler mit einer Behinderung ihr Potenzial nur ausspielen können, wenn sie in der Schule entsprechende Barrierefreiheit vorfinden. Diese finden sie vor allem an Förderschulen vor, da sich diese auf die besonderen Bedürfnisse junger Menschen mit Behinderung eingestellt haben. „In der Förderschule habe ich mich dann so wohl gefühlt, dass ich dachte: Das ist echt ein unbeschreibliches Gefühl, sich nicht so fehl am Platz zu fühlen“, beschreibt Lisa ihre Gedanken nach einer Probewoche, die sie in der siebten Klasse an der Blindenschule in Düren gemacht hat. „Wir sind dann zum Schulministerium gegangen und haben einen Schulwechsel veranlasst, schließlich war Lisa in der Regelschule tot unglücklich“, fügt ihr Vater hinzu. Der Schulwechsel war für Lisa ein voller Erfolg. Nachdem sie die Blindenschule in Düren mit dem Realschulabschluss verlassen hat, besucht sie nun die zwölfte Klasse der Blista, Deutschlands einzigem Gymnasium für Schüler mit Sehbehinderung. „Wenn alles gut läuft, habe ich im Sommer mein Fachabi in der Tasche“, erzählt Lisa.
Während Lisa von einer Regelschule auf eine Förderschule wechselte, war es bei der blinden Nejla aus Hagen genau anders herum. „Ich habe sie nach der ersten Klasse aus der Blindenschule genommen, damit sie unter Sehenden aufwächst und sich die Kinder an sie gewöhnen“, erläutert Nejlas Mutter. Der Plan der 43-jährigen scheint aufzugehen. „Ich bin mit Nejla seit der Grundschule in einer Klasse, deshalb ist es für mich ganz normal“, sagt eine von Nejlas Klassenkameradinnen.
Laut Diplompsychologe Oliver Rien hängt es von der Schule ab, wie gut oder schlecht die Inklusion funktioniert. Er habe bereits Fälle erlebt, in denen Eltern ihr gesundes Kind von der Schule abgemeldet hatten, weil sie Angst hatten, es könne zu kurz kommen. „Es gibt aber auch Fälle, in denen die Behinderung als Bereicherung wahrgenommen wird“, so Rien. So ist es auch im Fall von Nejla. „Ich kann sogar die Blindenschrift. Die hat sie uns in der sechsten Klasse gezeigt“, erzählt eine Mitschülerin stolz. Außerdem werden im Sportunterricht manchmal Sportarten für Blinde ausprobiert. Auch die Lehrer sehen Vorteile in der Inklusion einer blinden Schülerin. „Wenn wir im Unterricht Bilder verwenden, dann bitte ich die Klasse darum, diese für Nejla ausführlich zu beschreiben. Das fördert ihre Beschreibungskompetenz“, sagt Klassenlehrer Stefan Kesting. Auch Eldina Klein findet, dass die Lehrer ihrer Tochter sehr engagiert sind. „Früher haben Nejlas Mitschüler sie auch sehr gut integriert. Das hat mittlerweile aber leider nachgelassen.“ Nejla jedoch findet: „Mir gefällt es gut hier. Die Lehrer sind toll und mit den meisten aus meiner Klasse verstehe ich mich gut.“
Auch der taubblinde Tim aus Düren hat es nicht leicht, was soziale Kontakte betrifft. „Ich habe keine Freunde in der Klasse und manchmal werde ich von meinen Mitschülern um meine guten Noten beneidet. Die glauben, dass ich bevorzugt werde, weil ich ein Handicap habe“, sagt er. Dass Tim es im sozialen Bereich nicht leicht hat, weiß auch seine Mutter. Ihr Sohn ist sehr kontaktfreudig, berichtet Marion Böttcher. „Er hat sogar mal Zettel an seine Mitschüler verteilt und gefragt, ob sie Lust haben, mit ihm zu whatsappen, aber leider ohne Erfolg“, erinnert sie sich. Psychologe Oliver Rien weiß, dass es für viele Kinder ohne Beeinträchtigung schwer zu verkraften ist, wenn ein Kind mit einer Behinderung bessere Noten schreibt als es selbst. „Ein Grund hierfür ist das Menschenbild, das wir von Menschen mit Behinderung haben. Wer ein Handicap hat, ist weniger intelligent und leistungsfähig. Wenn jemand jedoch nicht diesem Bild entspricht, führt das schnell zu Neid und Irritationen bei den Mitschülern“, erläutert Rien. Auch sind vielen Schülern die Nachteilsausgleiche nicht klar, die Schüler mit Beeinträchtigung gewährt bekommen. Tim zum Beispiel bekommt mehr Zeit für Klausuren, aber viele Lehrer tun noch mehr. In vielen Mathe-Klausuren werden Abbildungen von Figuren eingesetzt, anhand derer die Schüler Berechnungen durchführen sollen. Damit solche Materialien für Tim zugänglich sind, müssen sich die Lehrer etwas einfallen lassen. „Mein Mathelehrer hat einmal seinen Bruder – einen Schreiner – gebeten, eine Figur für mich aus Holz herauszuarbeiten“, erzählt Tim.
Aber nicht nur das Engagement seiner Lehrer, sondern auch das der eigenen Familie, sei wichtig, so Marion Böttcher. „Tim ist sehr ehrgeizig und hat viel zu Hause nacharbeiten müssen. Und wir als Eltern haben uns auch sehr engagiert, um vorhandene Lücken zu schließen.“ Tims Mathelehrer Urs Dohmen fällt jedoch noch ein weiterer wichtiger Punkt ein, der zu Tims Inklusion beiträgt: „Ein sehr wichtiger Ansprechpartner für mich ist Tims Förderlehrerin Frau Heimlich.“ Diese
kommt für fünf Stunden pro Woche zu Tim an die Schule. Den Rest ihrer Arbeitszeit verbringt sie an der Louis-Braille-Schule, der örtlichen Blindenschule. „Ich bin da, wenn es Probleme gibt und würde Tim auch bei Blindentechniken unterstützen, wenn er diese nicht schon so gut beherrschen würde“, erklärt sie. „Und im Notfall kann ich mich von der Schule freistellen lassen, um direkt hier sein zu können.“
Die Schule der Zukunft
Nejlas, Lisas und Tims Schulzeit ist in wenigen Jahren beendet. Aber auch nach ihnen wird es viele Schüler mit Behinderung geben, die inklusiv beschult werden. Die Rehabilitationswissenschaftlerin Dr. Birgit Drolshagen hat konkrete Vorstellungen davon, wie das Schulsystem von Morgen aussehen sollte: „Meiner Meinung nach ist es sinnvoll, auf ein inklusives Schulsystem mit guten Bedingungen hinzuarbeiten, also eine Schule für alle zu schaffen.“ Zwei parallele Systeme zu fahren ist sicherlich die teuerste Lösung. Für Schüler mit Behinderungen in den Bereichen Lernen, Erziehung, emotionale Entwicklung und Sprache soll die Schule finanzielle Unterstützung erhalten. „Aber in den Bereichen Hören und Sehen werden wir nicht ohne Kompetenzzentren auskommen“, so die Expertin. Diese Kompetenzzentren sollen die Schüler individuell unterstützen und ihnen die Hilfe zukommen lassen, die sie benötigen.
Auch Familie Böttcher und Familie Klein können sich vorstellen, dass es irgendwann keine Förderschulen mehr gibt. „Jedes Kind, das kognitiv in Ordnung ist, gehört auf eine ganz normale Schule. Wenn viele Kinder mit Behinderung auf den allgemeinen Schulen sind, dann gibt es auch kein Inklusionsproblem“, erklärt Nejlas Mutter. Familie Böttcher äußert sich etwas vorsichtiger. „Inklusion bitte erst, wenn alles tiptop läuft“, wirft Tim ein. „Tiptop“ bedeutet für Tim, dass Schüler mit und ohne Behinderung die gleichen Chancen haben, ohne dass Eltern und Lehrer Extraleistungen erbringen müssen. Außerdem müsse es Fortbildungen für Lehrer und Infoabende für Eltern geben, denn Aufklärung ist sehr wichtig. Und seine Mutter ergänzt: „Besonders im Bereich der Blindenpädagogik muss einiges vereinheitlicht werden. Außerdem sollte es zentrale Stellen geben, die sich mit der Hilfsmittelversorgung beschäftigen. Wenn Eltern mit den Kostenträgern um Hilfen für ihr Kind kämpfen müssen, ist das auch ein Inklusionshemmnis.“ Außerdem gäbe es so viele tolle Materialien für blinde Schüler, die aber nicht für jeden verfügbar sind. „Ein Materialpool würde da sicher helfen“, findet sie.
Psychologe Oliver Rien denkt jedoch, dass es keine gute Idee ist, alle Förderschulen zu schließen. „Ich erlebe viele Schüler mit Handicap, die psychisch nicht so stark belastbar sind. Diesen Schülern fällt es meistens auch sehr schwer, soziale Kontakte zu knüpfen. Für diese Schüler ist es besser, in einem geschützten Umfeld zu lernen, in dem man individuell auf ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse eingehen kann.“ In der Schule der Zukunft sollte verstärkt Wert auf die emotionalen und sozialen Fähigkeiten der Schüler gelegt werden. Dies sei ein guter Weg aus der Leistungsgesellschaft hin zu Teamfähigkeit und persönlicher Entfaltung.
Auch Lisa und ihr Vater teilen diese Meinung. „Ich finde es wichtig, dass wir Eltern weiterhin die Wahl haben, ob unser Kind auf eine Regel- oder eine Förderschule gehen soll“, sagt Otmar Köndgen. Seine Tochter appelliert: „Schließt die Förderschulen nicht, denn Regelschulen sind auf Spezialfälle wie blinde und sehbehinderte Schüler nicht vorbereitet.“
Quelle ist von andersunddochgleich.de