Die Lübbecker Innenstadt ist für Sehbehinderte ein Hindernisparcours –

Mareike Köstermeyer Schon der Weg zur Bank ist für Sehbehinderte eine Herausforderung. Das muss nicht sein, findet Ilona Steinmeier. Die NW begleitet sie bei einem Rundgang durch Lübbecke.  Lübbecke. Der Bus hält planmäßig an Haltestelle zwei am ZOB am Lübbecker Westertor. Die Tür geht auf und eine schlanke Frau mit grauem Kurzhaarschnitt steigt aus. Sie trägt eine rote Jacke, dazu passende rote Schuhe und Jeans mit modischem Zierstreifen an der Seite. Sie hat einen Rucksack mit Blumenaufdruck dabei – und einen Blindenstock und sie trägt einen Anstecker mit drei schwarzen Punkten.  Ilona Steinmeier hat nur noch zwei Prozent Sehvermögen, sie leidet unter Makula Degeneration (AMD). Eine genetisch bedingte Krankheit, die bei ihr mit 51 Jahren anfing. Ursache der AMD sind Veränderungen in den Netzhautschichten, die unter den lichtempfindlichen Zellen im Auge liegen.  Die Frauen können nur Kontraste und Umrisse erkennen  Die 68-Jährige ist heute mit drei Freunden in der Stadt verabredet. Auch Elisabeth Speckens, Ursula Ireland und Harry Holznagel sind sehbehindert. Sie haben den „Tunnelblick“, wie es umgangssprachlich heißt, die Erbkrankheit Retinitis Pigmentosa (RP), die irgendwann im Leben ausbricht und Sehvermögen stetig verschlechtert. Während die beiden Frauen noch Kontraste und Umrisse erkennen können, ist Harry Holznagel bereits vollständig blind.   Harry Holznagel und Ursula Ireland würden gerne wissen, in welche Richtung es weiter geht. Geradeaus offensichtlich nicht. – © Mareike Köstermeyer Harry Holznagel und Ursula Ireland würden gerne wissen, in welche Richtung es weiter geht. Geradeaus offensichtlich nicht. | © Mareike Köstermeyer „Zunächst komplett orientierungslos“  Wenn der Bus so wie dieses Mal vorschriftsmäßig hält, haben die vier am ZOB keine Probleme. Ungünstig ist es, wenn der Bus ein paar Meter weiter hinten hält, und ihnen das niemand sagt. „Wenn man woanders aussteigt als erwartet, dann ist man zunächst komplett orientierungslos“, sagt Ilona Steinmeier.  „Obwohl das Blindenleitsystem des ZOB vorbildlich ist.“ Denn den ganzen Bussteig entlang befinden sich auf dem Boden farblich abgesetzte Blindenleitlinien, jedes Bushäuschen ist für Sehbehinderte mit so einer Leitlinie markiert. Die vier sich problemlos bewegen.  Der ZOB ist quasi eine Insel  Zumindest bis zum Ende des Bussteigs, denn da ist auch Ende des Blindenleitsystems. Der ZOB ist also quasi eine Insel. Sobald sie den Bussteig verlassen, müssen die vier ohne die Leitlinien zurechtkommen. Für vollständig erblindete, wie Harry Holznagel, unmöglich. Der Weg zur Bankfiliale, 300 Meter Fußweg, daher eine Herausforderung.  Entlang der Wallstraße gibt es ebenfalls keine Leitlinien, erst an der Bahnhofstraße ist plötzlich aus dem Nichts ist wieder eine Leitlinie auf dem Bürgersteig. „Überquerungshilfen wie diese sind gut, aber diese hier endet auf der anderen Straßenseite leider genau so unverhofft, wie sie hier anfängt“, sagt Ilona Steinmeier.   Die meisten Ampeln an den großen Lübbecker Kreuzungen sind mit akustischen Hilfssignalen ausgestattet. – © Mareike Köstermeyer Die meisten Ampeln an den großen Lübbecker Kreuzungen sind mit akustischen Hilfssignalen ausgestattet. | © Mareike Köstermeyer „Darum bevorzugen wir die Ampeln an der Kreuzung zur Osnabrücker Straße.“ Die sind zusätzlich zum Leitsystem mit akustischen Signalen ausgestattet. So lange die Fußgängerampel rot ist, ist ein langsames, aber beständiges, Klicken zu hören. Sobald die Ampel grün wird, ist ein schnelles Klicken zu hören. Eine tolle Sache, findet die 68-Jährige.  „Das ist der absolute Horror für uns“  In der Bankfiliale angekommen, die nächste Herausforderung: Schwarz-glänzende Fließen auf dem Boden. „Das ist der absolute Horror für uns“, sagt Ursula Ireland. „Durch die reflektierende Deckenbeleuchtung sieht für uns alles wie Stufen aus.“ Die vier müsse sich hier ganz auf ihre Blindenstöcke verlassen, mit denen sie versuchen, die vermeintlichen Stufen zu ertasten. Die dunklen Teppiche vor den Geldautomaten machen es nicht leichter und darum bewegen sie sich in der Bankfiliale besonders vorsichtig und zögerlich.  Sehbehinderte Menschen mit einem kleinen Restsehvermögen sind auf Licht und Kontraste angewiesen, denn die können sie erkennen. Blindenleitsysteme sind daher oft in schwarz und weiß gehalten. Gerippte Steine zeigen eine Laufrichtung an, genoppte Steine eine Kreuzung oder Wegquerung.  Platz machen? Fehlanzeige  Auf dem anschließenden Weg in die Innenstadt begegnet die Gruppe jeder Art von Menschen. Denjenigen, die die Blindenstöcke erkennen und ausweichen, denjenigen die ganz aus dem Weg gehen um nicht zu behindern, aber auch jenen, die keine Rücksicht nehmen. Zwei junge Männer blockieren mit einem Fahrrad den Bürgersteig. Platz machen? Fehlanzeige.  Ilona Steinmeier und ihre Freunde müssen drum herum gehen. „In solchen Situationen haben wir es aufgegeben, die Leute anzusprechen“, sagen sie. Anders ist es, als ein geparktes Mofa auf der Blindenleitlinie steht.  Sehende sind sich der Problematik häufig nicht bewusst  Der Fahrer steht daneben und Ilona Steinmeier macht ihn freundlich auf die Problematik aufmerksam. Unverzüglich räumt der junge Mann sein Gefährt von der Linie und erzählt, dass ihm der Fehler nicht bewusst gewesen sei. Er bedankt sich sogar, dass er aufmerksam gemacht wurde.  Es gibt viele Situationen, bei denen Sehenden nicht bewusst ist, dass sie für Sehbehinderte Schwierigkeiten bedeuten. Häufig können da auch Hilfsmittel für Sehbehinderte wie die sprechende Uhr, das Farberkennungsgerät oder das sprechende Thermometer nicht helfen.  Nasse Füße sind vorprogrammiert  Die Lübbecker Fußgängerzone birgt ebenso Hindernisse für Sehbehinderte. Leitlinien sollen die äußeren, längsliegenden Steine sein, doch die sind, weil sie sich in der Höhe nicht unterscheiden, weder mit dem Blindenstock ertastbar, noch farblich abgesetzt, genau so wenig wie die Steine mit Noppen, die eine Kreuzung ankündigen sollen. „Außerdem stehen immer wieder Werbeschilder der Geschäfte auf der Linie, oder sie führt so dicht am Wasserspiel vorbei, dass nasse Füße vorprogrammiert sind“, erzählt Ilona Steinmeier.  Besonders heikel ist es beim Eiscafé, wo Stühle und Schirme auf der Linie stehen. „Schon mehrmals habe ich das Gespräch mit den Betreibern gesucht, aber die müssen ihr Geschäft ja nun auch irgendwo machen“, sagt Ilona Steinmeier auch mit ein bisschen Verständnis. „Aber solche Probleme hätten wir nicht, wenn entweder mehr Aufklärung über die Leitlinien betrieben würde, oder die Linie einfach mittig in der Fußgängerzone wäre“, ergänzt sie.  Ausgezeichnetes Blindenleitsystem in Marburg  Auf dem Weg zurück zum ZOB erzählen die vier vom ausgezeichneten Blindenleitsystem in Marburg. Aber das in Minden sei auch nicht schlecht. Darum engagieren sich Ilona Steinmeier und ihre Freunde im Blinden- und Sehbehinderten Verein Westfalen, und auch in der aktuellen Woche des Sehens, wie mit einem Infostand in der Lübbecker Innenstadt.  So hoffen sie, mehr Verständnis zu schaffen für die rund 115.000 Blinden und Sehbehinderte in NRW und 115 Menschen in Lübbecke. Doch vor allem wollen sie die Mitmenschen sensibilisieren, damit in Zukunft zumindest jeder Bus schon mal an der vorgesehenen Haltestelle hält.

Quelle: https://www.nw.de/lokal/kreis_minden_luebbecke/luebbecke/22584127_Luebbecker-Innenstadt-fuer-Sehbehinderte-ein-Hindernisparcours.html