Wie viel Schuld trägt Kohfeldt an der Bremer Misere?

Hallo zusammen,

Wie viel Schuld trägt Kohfeldt an der Bremer Misere?

Knapp zwei Jahre lang ging es für Florian Kohfeldt beim SV Werder quasi nur
bergauf. Doch im Spätherbst 2019 ist der 37-Jährige plötzlich als
Krisenmanager gefordert. Umstritten bleibt, wie viel Schuld der
unlängst sogar beim BVB gehandelte Coach am Absturz der Bremer trägt.

Ende März stand die Fußball-Prominenz Schlange, um Florian Kohfeldt zu
gratulieren. Dem gebürtigen Siegener war eine besondere Ehre zuteil
geworden: Die Auszeichnung als „Trainer des Jahres 2018“. Reinhard Grindel,
damals noch DFB-Präsident, schwärmte: „Unter ihm spielt Werder Bremen
frischen, begeisternden und erfolgreichen Fußball.“ Nur sieben Monate später
sind die Lobeshymnen verstummt.

Elf Punkte aus elf Partien, sieben Liga-Spiele ohne Sieg und 24 Gegentore
haben den SV Werder, der mit dem Saisonziel Europacup angetreten war, in
unmittelbare Nähe zur Abstiegsregion gebracht. Ebendahin, wo kein Bremer
mehr sein wollte.
Kohfeldt kennt die Situation: Als er die Hanseaten im Oktober 2017 vom
glücklosen Alexander Nouri übernommen hatte, waren sie Vorletzter. In
erstaunlich kurzer Zeit gelang es dem beförderten U23-Coach damals, einer
verunsicherten Mannschaft neues Leben einzuhauchen. Der Jahrgangsbeste der
DFB-Trainerausbildung 2015 ließ sein Team zur Freude der Fans offensiv und
mutig spielen – egal, ob der Gegner FC Bayern München oder FC Augsburg hieß.

Was in der Vorsaison noch fast zum Einzug in die Europa League reichte, ist
neuerdings ein Problem. Denn: Werder hält meist gut mit, gewinnt aber nicht
mehr. Kein Wunder, dass sich der Wind an der Weser langsam dreht.

Kohfeldt bekommt die dramatische Standardschwäche nicht in den Griff

Zwar sitzt Kohfeldt weiter fest im Sattel, muss sich derzeit allerdings
ungewohnt viele kritische Fragen gefallen lassen. Die Drängendste: Wieso
bekommen die Bremer ihre dramatische Standardschwäche nicht in den Griff?
Beim jüngsten 1:3 in Gladbach kassierten die Grün-Weißen bereits den zehnten
(!) Gegentreffer nach einem ruhenden Ball. Kohfeldt flüchtete sich
anschließend in Galgenhumor. „Ich beantrage, dass wir künftig ohne Standards
spielen“, unkte der Übungsleiter.

Umso kurioser, dass der SVW erst in der Sommerpause einen Spezialisten für
diese Disziplin ins Trainerteam geholt hatte. Doch seit Ilia Gruev mit der
Mannschaft arbeitet, läuft defensiv nichts mehr zusammen.
Freilich wirkt die unglaubliche Verletzungsmisere, die zwischenzeitlich
zwölf Profis gleichzeitig außer Gefecht gesetzt hatte, bis heute nach.
Nahezu wöchentlich musste Kohfeldt seine Viererkette umbauen, Automatismen
konnten sich so nicht entwickeln.

Trotzdem ist der Chefcoach nicht nur Opfer der widrigen Umstände.
Kohfeldts Nibelungentreue wird zum DilemmaIm eigentlich ruhigen Bremer
Umfeld mehren sich Stimmen, die Kohfeldts personelle Entscheidungen
hinterfragen. Seit Wochen hält der 37-Jährige an formschwachen Spielern
fest, die das Vertrauen nicht rechtfertigen.

Hinten links hat der Österreicher Marco Friedl aktuell einen
Freifahrtschein, obwohl er den Nachweis seiner Bundesliga-Tauglichkeit
bislang schuldig geblieben ist. Der Vertreter des dauerverletzten Ludwig
Augustinsson wurde von der Konkurrenz längst als Achillesferse der Abwehr
ausgemacht, oftmals laufen nahezu alle Angriffe des Gegners über seine
Seite.

Und Kohfeldt? Der lässt den gelernten Innenverteidiger weiter auf einer
Position ran, die ihm offenkundig nicht liegt. Diese Nibelungentreue wird
immer mehr zum Dilemma. So wenig er am Ausfall der Leistungsträger
Augustinsson und Niklas Moisander ändern kann – die Formierung einer
harmonierenden Elf liegt letztendlich in der Verantwortung des Trainers. Und
ebendieser wird Kohfeldt momentan zu selten gerecht.

Ein weiteres prominentes Beispiel ist Maximilian Eggestein. Das Eigengewächs
zollt dem anstrengenden EM-Sommer Tribut, ist augenscheinlich total
überspielt. Doch Kohfeldt gewährt ihm die dringend benötigte Verschnaufpause
nicht. Dabei verfügt der Kader mit Philipp Bargfrede über eine hochwertige
Alternative.

Schwieriger ist die Lage im Tor. Jiri Pavlenka, der in den vergangenen
beiden Spielzeiten zu den besten Keepern der Bundesliga zählte, steckt in
einer handfesten Krise. Der einstige Rückhalt ist inzwischen zum
Risikofaktor mutiert. Dass Kohfeldt dem Tschechen dennoch den Rücken stärkt
und Herausforderer Stefanos Kapino zappeln lässt, ist nachvollziehbar,
andernfalls wäre Pavlenka völlig demontiert.

Die Transferstrategie von Werder Bremen darf angezweifelt werden

Zugutehalten muss man Kohfeldt, dass er in Bremen mit begrenzten Mitteln
arbeitet. Jahr für Jahr stehen die Verantwortlichen um Manager Frank Baumann
vor der kniffligen Aufgabe, das Team mit vergleichsweise geringem Budget
umbauen zu müssen. In den letzten Wechselperioden klappte das sehr
ordentlich, Zugänge wie Milot Rashica und Davy Klaassen haben nicht nur das
spielerische Niveau, sondern auch ihren Marktwert deutlich erhöht.
Im vorigen Sommer lagen die Norddeutschen jedoch häufig daneben. 13,7
Millionen Euro wurden in die Käufe beziehungsweise Leihen von Friedl, Niclas
Füllkrug, Ömer Toprak, Michael Lang und Leonardo Bittencourt investiert. Die
Zwischenbilanz der Neuen fällt aus unterschiedlichen Gründen ernüchternd
aus.

Nahezu ausschließlich auf Profis zu setzen, die über möglichst viel
Erfahrung in Deutschlands höchster Spielklasse verfügen, in ihren Ex-Klubs
aber nur sporadisch zum Zug kamen, zahlt sich bislang nicht aus. Insofern
darf auch Werders Transferstrategie angezweifelt werden. Manch ein
Versäumnis, allen voran das Fehlen eines Augustinsson-Backups, rächt sich
jetzt.

Wie wollen die Bremer nun der Negativspirale entkommen? Zuallererst mit
Beständigkeit: „Wer das Spiel in Gladbach gesehen hat, kann nicht ernsthaft
sagen, dass der Weg der falsche ist“, stellte Kohfeldt kürzlich klar. Noch
stimmt ihm die Mehrheit zu, immerhin hat Werder zuletzt selbst gegen
Top-Vereine auf Augenhöhe agiert. Nur nie gewonnen.
Mal war in der Analyse von Chancenwucher die Rede, mal von individuellen
Aussetzern, gelegentlich auch vom fehlenden Spielglück. Den Absturz in den
Keller nur auf Faktoren zu reduzieren, die nicht trainierbar sind, wäre
freilich naiv.
Bis zur Winterpause sollte Krisenmanager Kohfeldt mit seinen Schützlingen
tunlichst drei der ausstehenden sechs Partien gewinnen, um zumindest noch
die 20-Punkte-Marke zu knacken. Sonst könnte der „Trainer des Jahres 2018“
zum „Absteiger des Jahres 2019“ werden.

Quelle: www.sport.de