Die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems.

AutorInnen: Ewald Feyerer, Herbert Altrichter Themenbereiche: Schule, Theoretische Grundlagen Schlagwörter: Schulische Integration, Politik, Sonderpädagogischer Förderbedarf (SpF), Schule, Bildung, Unterricht, Disability Studies, Österreich, Macht, Inklusive Schule Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Feyerer, Ewald [Hrsg.]; Prammer, Wilfried [Hrsg.], Prammer-Semmler, Eva [Hrsg.], Kladnik, Christine [Hrsg.], Leibetseder, Margit [Hrsg.], Wimberger, Richard [Hrsg.]: System. Wandel. Entwicklung. S. 74-92 Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2018. Copyright: © Julius Klinkhardt 2018 Inhaltsverzeichnis 1 Bildungsreform als Governance-Aufgabe 2 Darstellung der Ist-Situation und der Entwicklung 3 Zusammenfassung und Analyse 4 Konsequenzen für Bildungspolitik, -praxis und -forschung Bildungspolitik und -verwaltung Bildungspraxis Bildungswissenschaft (Lehre und Forschung) Literatur 1 Bildungsreform als Governance-Aufgabe
Eine Bildungsreform, wie eben die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems, will ein soziales System, das aus dem komplexen Zusammenspiel verschiedener Akteure entsteht, gestalten, in eine bestimmte Richtung weiterentwickeln, also kurz gesagt „steuern“.
Bei „Steuerung“ – oder dem politischen Synonym „Regieren“ – denkt man im Sinne der klassischen Steuerungstheorie an die Ausübung von Macht und Kontrolle zur Ordnung und Entwicklung eines Gemeinwesens, die durch Gesetzgebung und die entsprechenden Institutionen legitimiert ist. Man denkt an „die da oben“, die schon ihre Wege und Mittel haben werden, die operativen Akteure „da unten“ in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Diese Konzeption der politischen Steuerung, die vor allem aus der Perspektive der formal entscheidungsberechtigten Staatenlenker – der „legislators“ auf der Ebene der Nationalstaaten – dachte, geriet Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre unter Druck (vgl. Blumenthal 2005). Durch die empirische Transformations- und Implementationsforschung wurde deutlich, dass auch die „Steuerungsobjekte“ unterhalb der Gesetzgeberebene aktiv sind und „dass Regierungen und Verwaltungen ihre Aufgaben meistens nicht autonom, sondern nur in Zusammenwirkung mit andern Akteuren, seien es solche aus dem öffentlichen oder dem privaten Sektor, erfüllen können, ferner dass zahlreiche kollektiv verbindliche Regeln ohne den Staat gesetzt und durchgesetzt werden“ (Benz 2004, 17).
Andererseits kam die traditionelle Steuerungstheorie gleichsam unter Druck von oben: Lange Zeit hatte sich diese auf den einzelnen Nationalstaat mit relativ klarer Identität, Grenzen und Mitgliedschaft konzentriert. Mit dem Entstehen der Europäischen Union und mit der Globalisierung internationaler Beziehungen musste sich der Blick auch auf Entscheidungsräume oberhalb des Nationalstaats richten. Offenbar gibt es auch relevante externe Bedingungen nationalstaatlicher Politik, die nicht nur durch legislative und regulatorische Prozesse auf europäischer Ebene, sondern auch aufgrund anderer gesellschaftlicher Dynamiken, z.B. als „Sekundäreffekte“ der europäischen Marktintegration, entstanden sind (vgl. Mayntz 2009, 19f.).
Fragen der „Steuerung“ der Bildungssysteme haben in den letzten Jahren auch im Bereich der Bildungsforschung im Rahmen der sogenannten Governance- Perspektive verstärkt Interesse auf sich gezogen (vgl. Altrichter 2011, 2015). Es wird davon ausgegangen, dass die reale Entwicklung von Bildungssystemen nicht allein durch die Tätigkeit der staatlichen Gesetzgebung und ihre Umsetzung durch Verwaltung erklärbar ist, sondern durch eine Vielzahl von Akteuren, die nicht unbedingt alle gleichberechtigt und gleich mächtig sind, doch einander wechselseitig beeinflussen.
Diese Akteure sind in einem Mehrebenensystem angeordnet. Man kann beispielsweise bei der Analyse der Lehrerbildung die Ebenen der zentralen Politik, Gesetzgebung und Verwaltung, jene der Bundesländer, der einzelnen Lehrerbildungsinstitutionen, jene von eventuell dort existierenden organisatorischen Subeinheiten (wie Schools of Education oder Abteilungen in Landesinstituten), jene der Lern-Lehrinteraktionen von Studierenden und Hochschullehrpersonen sowie jene von verschiedenen „intermediären Akteuren“ (wie z.B. Stiftungen, Akkreditierungs- und Vermittlungsinstitutionen, Fortbildungsanbieter usw.) unterscheiden.
Auf diesen verschiedenen Handlungsebenen gelten charakteristischerweise unterschiedliche Handlungslogiken, gleichsam „unterschiedliche Sprachen“. Daraus ergibt sich auch ein typisches Problem bei der Implementation von Reformen: Veränderungsideen müssen bei der Kommunikation zwischen den Ebenen jeweils wieder in eine Sprache und in Handlungspraktiken „übersetzt“ werden, die der jeweiligen Ebene angemessen sind. Helmut Fend (2006) hat diesen Vorgang und Anspruch als „Rekontextualisierung“ bezeichnet – als Problem, einen sprachlichen, handlungsbezogenen und strukturellen Ausdruck für ein Reformprogramm zu finden, der dem jeweiligen Kontext, der jeweiligen Ebene angemessen ist.
Die Aufgabe der Steuerung wird in dieser Perspektive als Problem sozialer Koordination beschrieben: Wie gelingt es, eine Vielzahl von Akteuren, die nach unterschiedlichen Handlungslogiken funktionieren, in einigermaßen nachhaltiger (oder verbindlicher) Weise zu koordinieren? Eine Bildungsreform (als Spezialfall einer politischen Reform) versucht ja, die bestehenden Koordinationsbeziehungen im Bildungswesen zu verändern, Akteure sollen (partiell) Anderes tun und sich dabei in veränderter Weise mit anderen Akteuren koordinieren.
Praktisch geschieht dies, indem ein oder mehrere Reformakteur(e) veränderte Strukturangebote in das entsprechende soziale Feld einführen: Regeln (Normen, Vorschriften, aber auch Werte, informelle Verhaltensregeln usw.) propagieren und/oder Ressourcen (Geld, Personal/Arbeitszeit, Ausbildungsmöglichkeiten usw.) in veränderter Weise zur Verfügung stellen.
Diese wirken nicht „automatisch“, sondern stellen zunächst „Handlungsangebote“ an andere Systemakteure dar. Damit eine Reform real wird (und nicht nur „totes Recht“ bleibt), müssen diese neuen Handlungsmöglichkeiten von den relevanten Akteuren im System aufgegriffen und in ihre Handlungspraxis integriert werden. Dies wird umso eher geschehen, wenn die angesprochenen Akteure mit dem normativen Gehalt der propagierten Regeln übereinstimmen (also ihre Werte, Motive und Normen jenen der Neuerung entsprechen) und wenn die bei ihnen verfügbaren Ressourcen (z.B. Personal, Kompetenzen, entsprechende Arbeitsmittel usw.) die durch die Reform angezielten Handlungen erlauben. Ist dies nicht der Fall, muss von Seiten der Befürworter_innen der Reform gezielt „Bewusstseinsbildung“ (Überredung oder Sanktionen zur Befolgung der normativen Regeln) sowie „Ressourcenentwicklung“ (zum Aufbau der Fähigkeiten, die Reform umzusetzen) betrieben werden. Wenn durch die neuen Regeln und Ressourcen dauerhaft neue Handlungspraktiken angeleitet werden, dann spricht man von der „Bildung neuer Strukturen“.
So einfach ist die Sache aber auch für sehr potente Reformakteure normalerweise nicht, weil sie nicht die Einzigen sind, die Ideen für Regeln und Ressourcen haben, die das Handeln der Akteure leiten sollen. Auf der politischen Makroebene gibt es weitere Akteure, die andere Vorstellungen von Bildungsreform haben, z.B. die Opposition oder die Gewerkschaft, und diese alternativen Handlungsangebote in das entsprechende Feld kommunizieren. Auf weiteren Ebenen mag es andere Akteure geben (z.B. Schulleitungen, Schulaufsicht, Eltern, Lehrpersonen, Schüler_innen, usw.) die die Werte explizit nicht teilen oder bloß keinen Grund sehen, von bisherigen Werten und Handlungspraktiken abzugehen. Und es mag solche geben, die zwar im Prinzip bereit wären, an den Rekontextualisierungsprozessen mitzuwirken, denen es aber an Ressourcen (z.B. professionelle Fähigkeiten, materielle Mittel) mangelt, um diese sinnvoll umzusetzen.
In dieser Perspektive erscheint eine Bildungsreform also als eine sich in der Zeit und in einem sozialen Raum erstreckende Vielzahl von miteinander unterschiedlich verketteten Transaktionen unterschiedlicher Akteure auf unterschiedlichen Systemebenen. Das Ergebnis kann dann – um ein letztes der „catchwords“ der Governance-Perspektive zu nennen – „transintentional“ sein: Es kann etwas herauskommen, was keiner der Akteure am Anfang so gewollt hätte. 2 Darstellung der Ist-Situation und der Entwicklung Die Darstellung der österreichischen Entwicklung zu einem inklusiven Schulsystem erfolgt in sieben Thesen.
These 1:
Österreich hat mit der Verankerung der Integration im Jahre 1993 bzw. 1997 (Integration als Elternwahlrecht und als Aufgabe aller Schularten) eine im deutschen Sprachraum als sehr erfolgreich zu bezeichnende De-Segregation erreicht. Grundlage dafür war eine klare politische Strategie seitens des Unterrichtsministeriums in der Aufbruchsphase. So meinte z.B. der zuständige Bundesminister Rudolf Scholten (1992) in seiner Grundsatzerklärung: Die Situation erfordert, dass das Unterrichtsministerium die weitere Entwicklung nicht nur dem freien Spiel der freien Kräfte überlässt […] In Abkehr von der bisher verfolgten Zielsetzung, in gesonderten Bildungseinrichtungen die beste mögliche Schule für behinderte Kinder zu entwickeln, sieht das Unterrichtsministerium die Entwicklung der Schule zu einer Schule unter Einschluss aller Kinder als zentrale Notwendigkeit zur Wahrung des Wohles behinderter wie nichtbehinderter Kinder. Diese Haltung wirkte auf alle Ebenen durch, so dass es bereits in den 1990er- Jahren zu einem starken Rückgang der Sonderbeschulung kam und im Jahre 2013/14 im österreichweiten Durchschnitt nur mehr 1,6% aller Pflichtschüler_innen in Sonderschulen oder angeschlossenen Sonderschulklassen beschult werden, wobei es starke regionale Unterschiede gibt – von 0,6% in der Steiermark bis zu 2,5% in Vorarlberg (Bruneforth u.a. 2016). Der folgende Vergleich (siehe Abb. 1) mit deutschen Bundesländern macht den Erfolg der De-Segregation deutlich. So werden 2014 im Durchschnitt in Deutschland noch immer 4,3% der Schüler_innen segregativ beschult, also fast dreimal so viel wie in Österreich, und nur zwei deutsche Bundesländer, nämlich die Hansestadt Bremen und Schleswig-Holstein, schaffen es, in die Reihe der österreichischen Bundesländer einzubrechen.
Abbildung 1. Abbildung 1.
Abb. 1: Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in österreichischen (fett) und deutschen Bundesländern, sortiert nach Förderschulbesuchsquoten (= Segregationsquotient, dunkel; hell ist der Anteil an Pflichtschüler_innen mit SPF, die integrativ, also im Gemeinsamen Unterricht beschult werden). Daten KMK und BMBF 2014 (erstellt von Christine Pluhar, Ewald Feyerer)
These 2:
Die Verankerung des Elternwahlrechts bei Beibehaltung der selektiven Grundstruktur des Schulsystems mit einer Vielfalt der Förderorte und einer gymnasialen Unterstufe führt(e) nur zu einem integrativen Schulsystem, also zu einer Parallelverankerung („multi track system“) von gemeinsamer Beschulung und Sonderbeschulung. Die Entwicklung der Inklusion im Sinne einer Schule für alle („one track system“) stößt an strukturelle Grenzen. Die eigentlich notwendige Diskussion über eine äußere Schulreform war und ist immer noch tabu.
Bereits im Nationalen Bildungsbericht 2009 (Feyerer 2009) wurden die strukturellen Grenzen aufgezeigt, die entstehen, wenn ein inklusives Schulsystem innerhalb bestehender segregativer Strukturen umgesetzt werden soll. Die größten Hemmnisse sind demnach:
Unverbindlichkeit der gesetzlichen Regelungen, fehlendes Qualitätsmonitoring; Deckelung der sonderpädagogischen Ressourcen, was zu einer stetigen Verschlechterung der Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Unterricht führte; schularten- und stufenbezogene Lehrpläne; das „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“, das weiterhin die Stigmatisierung der Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (= SPF) bedingt; Hauptschulen bzw. Neue Mittelschulen (= NMS) müssen, Gymnasien dürfen integrieren; eine Beschränkung sonderpädagogischer Erziehung und Bildung auf den Pflichtschulbereich, was zu einem sehr frühen Verlassen des Schulsystems durch die Schüler_innen mit SPF führt. Die Integrationsbewegung musste sich mit einer additiven Verankerung zusätzlich zum Sonderschulsystem zufriedengeben. Sie konnte nur erfolgreich sein, wenn die bestehende Gliederungssystematik nicht angetastet wurde, denn das Motto der Regierungen nach Scholten lautete: „Innere Schulreform ja, äußere Schulreform nein.“ Die in der Folge gesetzlich fixierte Zweigleisigkeit ermöglichte zwar ein ständiges Wachsen der Integration auf ein international sehr hohes Maß, verhinderte aber auch eine grundsätzliche Diskussion über die strukturellen und systemischen Grenzen der Integration, die Effektivität der Sonderschulen und die strukturelle Neuordnung der Sonderpädagogik. Weiterhin bestimmen das Zwei-Gruppen-Denken, eine Defizit- statt Kompetenzorientierung und eine Selektions- statt einer Förderkultur das pädagogische Handeln.
These 3:
Wichtigster Gelingensfaktor ist nach Dyson (2010) eine Schulkultur, zu deren Merkmalen die Anerkennung und Würdigung von Unterschiedlichkeit, die Bereitstellung von Bildungsangeboten für alle Schüler_innen, eine starke Zusammenarbeit im Kollegium und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schülerinnen/Schülern, Schulpersonal und Eltern zählen. Innere Schulreform ist daher eine notwendige Gelingensbedingung. In den Schulen gibt es aber noch keine Schulentwicklungstradition. Der gleiche Schulort ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung für gelingende Inklusion. Dazu bedarf es auch der sozialen und der unterrichtlichen Integration, also eines gemeinsamen Unterrichts auf der Basis von Individualisierung und Differenzierung. Gemäß der Definition der UNESCO (2008) umfasst Inklusion eine ständige Qualitätsentwicklung, um allen Kindern unter Berücksichtigung der Diversität und der Vermeidung von Diskriminierung optimale Teilhabe an qualitativ hochwertiger Bildung zu ermöglichen. Dies beinhaltet eine ständige Qualitätsentwicklung der Schulen. Weder die österreichische noch die deutsche Schule hat eine solche Tradition. Die Politik setzt aber vor allem auf innere Schulreform, gibt damit den Lehrer_innen die Hauptlast der Veränderung, und strebt keine Strukturveränderung aktiv an – die aber nicht wirklich funktionieren kann.
These 4:
Kulturveränderung benötigt auch eine Strukturveränderung und umgekehrt! Solange eine möglichst gerechte Selektion in verschiedene Schulformen das Hauptziel der Schule ist und die Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe 1 sowie Sonderschulen nicht abgeschafft werden, wird sich die Selektionskultur nicht in Richtung Förderkultur verändern.
An die Lehrpersonen ergehen bezüglich der notwendigen Strukturveränderung in letzter Zeit sehr unterschiedliche Botschaften. So hat die zuständige Bundesministerin Hammerschmid im Jänner 2017 über die Medien (ORF-Online, 5.1.2017) angekündigt, dass ab 2020 Sonderschulen die Ausnahme und inklusive Mittelschulen die Regel sein sollen. Daraufhin reagierte die Gewerkschaft in ihrer Zeitschrift (APS, Heft 1/2017) mit klaren Absagen an die Pläne der Ministerin und warf den Inklusionbefürworter_innen, die sie auch als „esoterische Bildungsgurus“ bezeichnete, „politisch korrekte Worthülsen“ vor, die „an der Realität vorbei gingen“. Der für das Bundesland Oberösterreich zuständige Landesschulrat ließ ebenfalls über die Medien (OÖN, 15.2.2017) wissen, dass das Bundesland auch weiterhin auf den Schultyp Sonderschule nicht verzichten wolle und auf umgekehrte Integration setze.
Eine strukturelle Veränderung des selektiven Schulsystems in Österreich scheint immer noch in weiter Ferne zu sein. Mit der Bildungsreform 2015 werden zwar einerseits wichtige Bausteine wie der Errichtung von unabhängigen Pädagogischen Beratungszentren anstelle der bisherigen Zentren für Inklusions- und Sonderpädagogik (= ZIS) an Sonderschulen oder eine stärkere Autonomie der Schulen verankert, andererseits wird aber die Idee der Inklusion nicht konsequent weitergedacht und für die Erprobung einer gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen eine Beschränkung auf 15% aller Standorte bzw. maximal 5000 AHS-Unterstufenschüler_innen eines Bundeslandes eingeführt. Die Eltern und Lehrer_innen an den einzelnen Standorten müssen mit einfacher Mehrheit zustimmen. Damit ist ausgeschlossen, dass etwa Wien auch zur Modellregion wird. Für Vorarlberg, wo es einen Fünf-Parteien-Beschluss im Landtag für die Gemeinsame Schule bereits gibt, heißt das, dass nun mit der konkreten Umsetzung begonnen werden kann. Eine echte Gemeinsame Schule in Vorarlberg wird es aber nicht vor 2025 geben. In welcher Form die Sonderschulen eingebunden werden, ist noch vollkommen offen. In allen an- deren Bundesländern wird die gemeinsame Schule weiterhin nur ein zusätzliches Angebot zu den bestehenden Schularten der Sekundarstufe 1, den Sonderschulen, den Neuen Mittelschulen und den Gymnasien sein.
These 5:
Neben einer Kultur- und Strukturänderung ist auch eine Änderung der Praktiken an den Schulen notwendig (siehe auch Index für Inklusion). Die Evaluationsergebnisse der Neuen Mittelschulen (Svecnik 2015) zeigen, dass eine inklusive Schule die Zielsetzungen einer chancengerechteren Schule erfüllen kann, wenn wichtige Schul- und Unterrichtspraktiken geändert werden (gemeinsamer Unterricht + Schülerorientierung + selbstreguliertes Lernen + Individualisierung und Differenzierung + Teamteaching + differenzierte Leistungsbeurteilung + KindElternLehrer-Gespräch). Für die Frage der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention, aber auch für Fragen zur Teilhabe an Bildungsangeboten von allen Gruppierungen, die marginalisiert und/oder von Ausschluss bedroht sind, wird es entscheidend darauf ankommen, inwieweit die am lokalen, kommunalen bzw. regionalen Bildungssystem Beteiligten inklusive Entwicklungen zu ihrem eigenen Anliegen machen. Die Lehrpersonen haben es in ihrer Hand, den Unterricht so zu gestalten, dass niemand diskriminiert wird, dass auf die Vielfalt der Schüler_innen Rücksicht genommen wird und alle Schüler_innen passende Lern- und Entwicklungsangebote erhalten. Schulversagen sollte damit minimiert werden. Tragende Säulen sind dabei ein gemeinsamer Unterricht, Teamteaching, eine Erhöhung der Schülerorientierung und der Selbstverantwortung der Schüler_innen, individualisiertes und differenziertes Lehren und Lernen sowie eine dem- entsprechend differenzierte Leistungsbeurteilung mit Einbeziehung der Schüler_innen und Eltern. Für einen positiven Effekt ist es notwendig, dass all diese Bausteine umgesetzt werden, nicht nur einzelne.
These 6:
Inklusion ist eine Mehrebenenkonstellation (Dlugosch 2013). Sie kann daher weder allein top-down verordnet noch bottom-up errichtet werden. Ein Zusammenspiel aller Ebenen ist notwendig. Inklusive Modellregionen könnten ein gutes Konzept sein, wenn sie wirklich gewollt und dementsprechend konsequent umgesetzt werden. Entwicklungen dazu gibt es momentan nur in 3 bis 4 Bundesländern. Die Unterstützung seitens der Bundesregierung ist bisher eher marginal. Im Regierungsprogramm 2013-2018 wurde die „Konzeption von Modellregionen zur optimalen und bedarfsgerechten Förderung aller Schülerinnen und Schüler dieser Region mit wissenschaftlicher Begleitung“ verankert. Im Erlass „Verbindliche Richtlinien zur Entwicklung von Inklusiven Modellregionen“ (bmbf 2015) wurden dann erstmals die Zielsetzungen offiziell definiert und Maßnahmen zur Umstrukturierung des bisherigen Bildungssystems ermöglicht. Erfreulich ist, dass sich die Bundesregierung einem breiten und systemischen Verständnis von Inklusion anschließt: Ein inklusives Schulsystem soll Bildungsbarrieren abbauen und so die Chancengerechtigkeit für „alle Schüler/innen, ob mit oder ohne SPF, deutschsprachig oder anderssprachig, männlich oder weiblich usw.“ erhöhen. „Nicht mehr das einzelne Kind, sondern das gesamte Lernsystem soll im Blickpunkt von Diagnose und Förderung stehen. Die gegenständliche Richtlinie hat zum Ziel, die Qualität der inklusiven Beschulung aller Schülerinnen und Schüler weiter zu entwickeln [sic!] und die entsprechenden Angebote auszuweiten“ (bmbf 2015, 1). Bezüglich der Abschaffung von Sonderschulen formuliert die Bundesregierung: „Eine Inklusive Modellregion soll die Möglichkeit bieten, alle in dieser Region wohnenden Schüler/innen an (Regel-)schulen [sic!] zu unterrichten und damit auf die Sonderbeschulung zu verzichten. Das bedeutet, dass an (Regel-)schulen [sic!] Möglichkeiten (z.B. spezielle Settings für Schüler/innen mit schweren/mehrfachen Behinderungen oder mit gravierenden Störungen im Bereich Sozio-emotionale Entwicklung) geschaffen werden müssen. Das Ziel einer IMR muss sein, die inklusive pädagogische Qualität und den Support an Regelschulen so zu heben, dass aussondernde Einrichtungen möglichst nicht mehr gebraucht werden, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention und der NAP-Behinderung 2012-2020 vorsehen“ (bmbf 2015, 2).
Ziel ist somit die Erprobung einer gemeinsamen Schule für alle, „sodass eine Segregation nach sonderpädagogischem Förderbedarf, Sprachdefiziten sowie Entwicklungsstand aufgehoben wird“ (bmbf 2015, 4).
Auch wenn der Erlass momentan nur an die Bundesländer Steiermark, Kärnten und Tirol gerichtet ist, wird an der Ziellinie 2020 festgehalten: „In jedem Schuljahr (beginnend mit 2015/16) kann in einem Stufenplan die Einrichtung von Inklusiven Modellregionen zwischen Bund und Ländern vereinbart werden – mit dem Ziel, bis zum Jahr 2020 alle Regionen des Bundesgebietes zu involvieren“ (bmbf 2015, 5). Das Bundesland Vorarlberg hat im Frühjahr 2017 beim Bundesministerium den Wunsch eingereicht, ebenfalls Inklusive Modellregion zu werden.
These 7:
Inklusion benötigt eine neue Lehrer_innenbildung. In Österreich ist die Lehrer_innenbildung seit 2015/16 nach Altersstufen gegliedert (= Vorwegnahme der Eingliedrigkeit und der Abschaffung von Sonderschulen) und „Inklusive Pädagogik“ als neues Lehr- und Forschungsgebiet in allen Lehrämtern verankert. Die Ausbildung steht damit im Gegensatz zur Schulrealität, die sich erst daran anpassen muss. In den Inklusiven Modellregionen gibt es bedarfs- orientierte Fort- und Weiterbildungsangebote.
Inklusive Bildung wird in den Rahmengesetzen zur neuen Lehrer_innenbildung als eine unverzichtbare pädagogische Grundlage für alle Studierenden definiert, die in allen Studienbereichen (Bildungswissenschaftliche Grundlagen, Fachwissenschaften und -didaktiken, pädagogisch-praktische Studien) in einem Ausmaß von zumindest 18 ECTS-Punkten verankert sein soll. Der Schwerpunkt Inklusive Pädagogik mit dem Fokus Behinderung, der sozusagen die bisherige Sonderschullehrer_innenausbildung ersetzt, umfasst ein Ausmaß von 80 bis115 ECTS-Punkten.
Inklusive Pädagogik wird so ein unverzichtbarer Bestandteil des Schulsystems – ganz im Sinne der Ziele der UN-Konvention. Die Gefahr ist allerdings, dass inklusive Bildung vom Lehrpersonal bloß als additiver Aspekt interpretiert wird, um den sich einige wenige Spezialistinnen und Spezialisten kümmern sollen, oder dass Diversität zwar als Schlagwort in den Curricula verankert, aber letztlich nicht ausreichend thematisiert wird (Mußmann/Feyerer 2017). 3 Zusammenfassung und Analyse
In Kapitel 3 wollen wir die eben dargestellten Entwicklungen – strukturiert durch einige zentrale Kategorien der Governance-Perspektive – zusammenfassen. Im Fokus der Aufmerksamkeit ist dabei die Periode nach der Ratifizierung der UN-BRK durch die Republik Österreich. Durch die „Selbstbindung“ des österreichischen Staates an supranationale Normen (Altrichter/Feyerer 2011) entstand die politische Aufgabe, die Entwicklung zur Integration, die zuvor auf der Basis von Freiwilligkeit und persönlichem Interesse in einigen Bundesländern vergleichsweise gut gelaufen war, im Sinne der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems zu verbreitern und verbindlich zu machen.
Verbreitern und Verbindlichmachen bedeutet zunächst auf der Akteursebene, dass eine größere Zahl von Personen relevante Mitwirkende werden und dass in dieser Gruppe relativ mehr Personen als in der „Phase der Integration“ vorhanden sein werden, welche die normativen Grundlagen der Reform nicht teilen sowie welche, die nicht aus eigenem Antrieb die notwendigen Qualifikationen erworben haben. Andererseits eröffnet sich durch die Notwendigkeit, Personal (Lehrer_innen, aber auch mobile Betreuungspädagoginnen und -pädagogen, Schulassistentinnen und -assistenten, Schulsozialarbeiter_innen, Schulpsychologinnen und -psychologen) zu gewinnen und z.T. zu schulen, die Möglichkeit, die Gruppe aktiver und kompetenter Befürworter_innen zu vergrößern.
Die Einbeziehung des Themas Inklusion in gegenwärtig wichtige Schulentwicklungsprojekte wie Schulqualität Allgemeinbildung (= SQA), Gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen, Grundschulpaket und Schulautonomie würde eine große Chance dafür bieten und wahrscheinlich nachhaltige Wirkung erzeugen. Fort- und Weiterbildungsangebote der Pädagogischen Hochschulen in den Bundesländern mit Inklusiven Modellregionen (= IMR) geben zu dieser Hoffnung Anlass.
Als wichtig erweisen sich in den IMR die neuen, vom Bund zum Teil finanzierten Landeskoordinatorinnen und -koordinatoren sowie die Schaffung von neuen Pädagogischen Beratungszentren mit inklusiv eingestelltem und entsprechend geschultem Personal.
In Bundesländern mit IMR wurden auch weitere außerschulische Partner gewonnen: die Gemeinden als Schulerhalter, aber auch die Sozialämter, die bei der Ressourcenverschiebung von sonderpädagogischen Settings zu inklusiven Settings eine wichtige Rolle spielen. Wer bisher nicht an Bord geholt wurde, ist die Gruppe der Gewerkschaft und die Personalvertretung.
Bringen diese Akteure Normen/Motive ein, die mit jenen eines inklusiven Schulsystems übereinstimmen?
Die „Verbreiterung“ der Entwicklung hat in den letzten Jahren auf der Ebene der Normen zu einer etwas unübersichtlichen Situation geführt. Zunächst scheinen uns massive politische Anstrengungen zur Bewusstseinsbildung in Gesellschaft und Schulsystem für Inklusion zu fehlen. Weder gab es öffentlich beachtete Kampagnen in dieser Frage noch haben sich in der medialen Öffentlichkeit weithin sichtbare Personen, wie Minister Scholten oder Landesschulratspräsident Schilcher in der frühen Phase der Integrationsentwicklung, mit eindeutigen Botschaften positioniert.
Norbert Maritzen hat kürzlich in einer Diskussionsbemerkung gemeint, für manche Probleme des Schulsystems wäre ein „Abschied vom good will-Denken“ und mehr Obligatorik notwendig. Für die Verbindlichmachung von Inklusion im Schulsystem scheint jedenfalls eine Strategie zu fehlen.
Die Zurückhaltung des Bundes auf der Ebene der Bewusstseinsbildung mag ihren Grund auch darin haben, dass reales Engagement zur Umsetzung der UN-BRK auch eindeutige Stellungnahmen in Hinblick auf obligatorische Auf- gaben und deren ressourcenmäßige Abdeckung benötigen. Deutlich wird in der Beobachtung der Entwicklung insgesamt, wie eng normative und Ressourcen- Fragen verbunden sind.
Obwohl die Ziele der UN-BRK vom Gesetzgeber (Ratifizierung 2008) und der Regierung (Nationaler Aktionsplan Behinderung 2012-2020 = NAP; Regierungsübereinkommen 2013-2018) unzweideutig anerkannt wurden, gibt es keine einheitliche Strategie der Umsetzung: Der Bund hat zwar einige Zeichen im Bereich der intermediären Systeme, der Begleitung, Betreuung und Koordination einer inklusiven Entwicklung, gesetzt. Seit kurzem wird durch den Bund nach langjährigem Widerstand pro Bundesland mit IMR zumindest eine halbe Stelle für die Landeskoordination zur Verfügung gestellt. Weiters hat das Bundeszentrum für Inklusive Bildung und Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich (= BZIB) mit insgesamt einer zusätzlichen Planstelle den Auftrag, die Entwicklung der IMR zu koordinieren. Das Bundesinstitut bifie hat den Auftrag zur wissenschaftlichen Evaluation in Kooperation mit den Pädagogischen Hochschulen und dem BZIB.
Wenn es um die „Breite“ der Umsetzung geht, dann fehlen sowohl normative als auch Ressourcen-Signale: Die §15a Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern tasten seit 2008 die Deckelung der sonderpädagogischen Ressourcen mit 2,7% aller Pflichtschüler_innen nicht an. Der Bund scheint Inklusion zu befürworten, überantwortet deren Umsetzung aber der Freiwilligkeit der Länder und Gemeinden innerhalb der bestehenden Ressourcen. In den IMR geschieht dies schon oft sehr gut. Manche Länder werden aber ohne klaren Auftrag vom Bund (der wohl Ressourcenforderungen nach sich ziehen würde) nicht tätig, während andere Länder, jene mit IMR, landeseigene Mittel zur Stellenbewirtschaftung einbringen. Diese würden gerne mehr machen, wollen dafür aber vom Bund mit Zusatzressourcen und mehr Freiraum unterstützt werden.
Auch im Unterstützungssystem findet sich die Strategie der „Entwicklung innerhalb der bestehenden Ressourcen“ wieder: Das bifie ist innerhalb der bestehenden Ressourcen beauftragt, die wissenschaftliche Begleitung der IMR zu machen, dabei unterstützen die Pädagogischen Hochschulen mit ihren regulären Ressourcen (sowohl bei Forschung als auch bei Fort- und Weiterbildung). Es gibt Elterninitiativen für die Abschaffung der Sonderschulen und solche gegen ihre Abschaffung. Ein Elternwahlrecht für Beschulung wird gegen das Recht des Kindes im Sinne der UN-BRK gestellt. Eltern, die gegen die Abschaffung der Sonderschulen sind, verstehen solche Vorschläge als Abzug von Ressourcen für die besondere Betreuung ihrer Kinder.
Die Gewerkschaft öffentlicher Dienst, die schulische Neuerungen häufig primär unter dem Aspekt der Belastung versteht und als Anlass für Ressourcenforderung, macht in der Zwischenzeit in ihrer Zeitschrift APS Stimmung gegen „realitätsfremde“ Inklusion. Viele Lehrpersonen, die selbst Ressourcenmangel in der Integration erleben, finden sich so zwischen unterschiedlichen Botschaften wieder.
Um nicht missverstanden zu werden: Unserer Meinung nach braucht nicht jede Neuerung zuerst zusätzliche Mittel, bevor man überhaupt hoffen darf, dass etwas Neues gedacht und getan werden kann. Sehr wohl aber brauchen Neuerungen in Transformationsphasen zusätzliche Mittel allein um Neustrukturierungen und Übergänge zu bewältigen. Und sie bräuchten ein plausibles Konzept, durch welche Umschichtungen bestehende Qualitäten gesichert und neue aufgebaut werden können.
Die Strategie der „Freiwilligkeit innerhalb der bestehenden Ressourcen“ erscheint einesteils freundlich an die Autonomie und den Erfindungsgeist der dezentralen Akteure zu appellieren. Auf der anderen Seite stößt sie wohl in vielen Fällen an das Sicherheitsbedürfnis vieler Akteure: Innerhalb der bestehenden Ressourcen ist es am leichtesten vorstellbar, dass die bestehende Praxis umgesetzt werden kann. Folgerichtig scheint die Entwicklung der letzten Jahre auf fatale Weise einer „Integration der Inklusion in die Segregation“ zu entsprechen (siehe Georg Feuser in diesem Band), die auch damit zusammenhängt, dass der Bund zu wenig normatives Leadership (aus Furcht vor Ressourcenimplikationen) zeigt und dadurch den öffentlichen Raum einer Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Partialinteressen überlässt.
Mit „Ressourcen“ sind in der Governance-Perspektive jedoch nicht nur materielle Mittel gemeint. Kompetenzen der Akteure sind in einem Bildungssystem weitere wesentliche Ressourcen. So ist mit den neuen Lehramtsstudien seit 2015/16 die Zielsetzung verbunden, dass alle Lehramtsstudierenden mehr grundlegende Kompetenzen für inklusive Bildung erwerben können. Dazu wurden in den neuen Curricula sowohl in den Allgemeinen Bildungswissenschaftlichen Grundlagen als auch in den Fächern Aspekte einer inklusiven Pädagogik verankert. Dabei werden alle für den Bildungsbereich wesentlichen Diversitätsaspekte angesprochen. Damit trotz Abschaffung der Sonderschullehrer_innenausbildung ausreichend sonderpädagogische Kompetenzen im Schulsystem bleiben, gibt es die Möglichkeiten einer Schwerpunktsetzung bzw. Spezialisierung in Inklusiver Pädagogik mit Fokus Behinderung.
Für jene Lehrer_innen, die bereits im Dienst sind, ist es notwendig, bedarfsgerechte Fort- und Weiterbildungsangebote anzubieten. So gibt es z.B. ein Erweiterungsstudium „Inklusive Pädagogik“ im Umfang von 60 ECTS, das den Lehrpersonen auch den Zugang zu einem Masterstudium im Bereich Inklusive Pädagogik ermöglicht. In den IMR werden weiters Angebote zur Stärkung der Diagnosekompetenz, der Individualisierung und Differenzierung und auch zur Schulentwicklungs- und Beratungskompetenz durchgeführt sowie Schulungen des Personals der Pädagogischen Beratungszentren.
Ein unmissverständliches strukturelles Zeichen, dass die inklusive Entwicklung Kompetenz erfordert, wäre z.B. die konsequente Bevorzugung von Berufstätigen mit inklusionspädagogischer Zusatzqualifikation bei Anstellungen oder Versetzungen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der der Koordination zwischen den zentralen Akteuren verschiedener Ebenen und Bereiche. Geschieht dies eher informell (durch wechselseitige Beobachtung der Akteure) oder werden spezielle Initiativen zur Koordination (durch Anordnung, wo Hierarchien bestehen, oder durch Verhandlung zwischen verschiedenen Partnern) gesetzt? Welche Formen, Orte oder Institutionen der Koordination wurden geschaffen? Welche haben sich für welche Zwecke bewährt?
Zur nationalen Koordination in Sachen Inklusionsentwicklung gab es im Jahr 2011 drei runde Tische zur Entwicklung des NAP sowie Tagungen 2014 und 2015. Gegenwärtig scheint sich – entsprechend der Strategie der „Freiwilligkeit der Bundesländer“ – die nationale Koordination auf die Entwicklung der IMR zu fokussieren, die durch eine Steuergruppe innerhalb der wissenschaftlichen Begleitung koordiniert wird (Bundesministerium, BZIB, bifie, Landesschulinspektorinnen und -inspektoren, Landeskoordinatorinnen und -koordinatoren). Innerhalb der Länder mit IMR gibt es landesweite Koordinationsgruppen und regionale Aktionspläne. Andere Länder weisen kaum Aktivitäten auf, die koordiniert werden müssten, und sind damit kein Gegenstand einer nationalen Koordination.
Die neue österreichische Strategie des systemischen Qualitätsmanagements SQA (vgl. Altrichter 2017) wäre eine Möglichkeit, wesentliche Elemente eines inklusiven Schulsystems in die Entwicklungspläne der Einzelschulen zu bringen. Die Rahmenzielvorgabe des Bundesministeriums ab September 2016 ist die „Weiterentwicklung des Lernens und Lehrens an allgemein bildenden Schulen in Richtung Individualisierung, Kompetenzorientierung und inklusive Settings“ (SQA 2016) und will ein solches Signal senden. Wir wissen allerdings noch nicht, wie intensiv diese Instrumente in der Interaktion zwischen Schulaufsicht und Schulleitungen tatsächlich zur Lenkung von Aufmerksamkeiten und Entwicklungsbemühungen benutzt werden.
Bereits erwähnt wurden die in den IMR neu aufgebauten Pädagogischen Beratungszentren (= PBZ) anstelle der Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik, losgelöst von den Sonderschulen, deren Ziel die systemische Unterstützung der Schulen bei ihrer Entwicklung zu inklusiven Schulen ist.
Nach Oelkers und Reusser (2008) ist das Alignment verschiedener Reformelemente untereinander sowie mit bestehenden Strukturen ein wichtiges Qualitätsmerkmal von Reformen. Weiterhin bestehen verschiedene Interferenzen zwischen bestehenden und neu aufzubauenden Strukturen. Dies ist in Transformationsphasen zunächst keine Überraschung; die Frage ist nur, wie aktiv sie bearbeitet werden. Die augenfälligste Interferenz ist das Festhalten an einem selektiven Sekundarschulsystem bei der gleichzeitigen Behauptung, Inklusion anzustreben, was sich nicht zuletzt in unterschiedlichen Anforderungen für Gymnasien und NMS niederschlägt. Solche systemischen Inkonsistenzen drücken sich dann auch in institutionellen Arrangements aus, die in Volksschulen und NMS fast ausschließlich die Regelschullehrer_innen mit der Klassenführung betrauen und nicht die als Sonderschullehrer_innen ausgebildeten Lehrkräfte. 4 Konsequenzen für Bildungspolitik, -praxis und -forschung Inhaltsverzeichnis Bildungspolitik und -verwaltung Bildungspraxis Bildungswissenschaft (Lehre und Forschung)
Um notwendige Handlungsstrukturen, Steuerungsmechanismen, Prozesse und Maßnahmen der oben genannten Akteure nachhaltig in dem Sinn werden zu lassen, dass sie längere Zeit auch unter „Nichtprojektbedingungen“ aufrecht erhalten werden können und zur Qualität eines inklusiven Schulsystems beitragen, möchten wir die folgende Strategien und Aktivitäten seitens der Bildungspolitik, -praxis und -forschung zur Diskussion stellen.
Grundsätzlich wäre ein radikaler Paradigmenwechsel von einem selektionsorientierten zu einem förderorientierten Bildungssystem wünschenswert, um inklusive Bildung optimal umsetzen zu können. Dazu notwendig wäre eine innere und äußere Schulreform mit Bezug auf Schulkulturen, -strukturen und -praktiken auf Basis eines klaren und tragfähigen politischen Bekenntnisses zur Inklusion. Dies müsste eine Auflösung der Sonderschulen und die Eingliedrigkeit in der Sekundarstufe 1 beinhalten. Eine solche Vision muss momentan aber als eine bildungspolitisch so gut wie unlösbare Herausforderung angesehen werden. Als Alternativstrategie wäre eine offensive Förderung und Unterstützung von angestrebten Entwicklungsschritten ein möglicher Weg. Dabei sollten alle Ebenen eingebunden werden, das Ziel klar formuliert sein, der Prozess national koordiniert und die konkrete Umsetzung regional und lokal gesteuert werden. Oberstes strategisches Ziel müsste die Erhöhung der Attraktivität für Inklusion und Eingliedrigkeit sein sowie die Gratifikation von Schritten in Richtung Inklusion, z.B. durch gezielte Ressourcenverteilung. Dafür können auf den verschiedenen Systemebenen eine Reihe von Aktivitäten gesetzt werden, die hier nur mehr stichwortartig aufgezählt werden können: Bildungspolitik und -verwaltung Inklusion als Mehrebenenkonstellation sehen und dementsprechend regionale Projektstrukturen aufbauen, die national koordiniert werden. Verbindlichkeit erhöhen, indem inklusive Bildung in allen wichtigen Reformprojekten (SQA, Gemeinsame Schule, Grundschulpaket, Autonomie) explizit verankert wird und ein Monitoringsystem dazu installiert wird. Ressourcen gezielt für die Entwicklung inklusiver Strukturen vergeben. Abgehen von der Strategie der „Freiwilligkeit innerhalb der bestehenden Ressourcen“ und Hinwendung zu einer Strategie der „Verbindlichkeit mit angemessener Unterstützung der Entwicklung“. Praktikable Lösungsansätze für flexible, chancengerechte, nicht stigmatisierende Ressourcenverteilung entwickeln und erproben. Mehr Akteure für gemeinsame Ziele und Handlungslogiken gewinnen und mit entsprechenden Veränderungen der Regeln und Ressourcenvergabe den Spielraum für Rekontextualisierung vorzeichnen. Systemische Unterstützungsangebote mit entsprechend geschultem Personal und inklusiven Einstellungen und Haltungen aufbauen. Bildung kommunal und gemeindenah denken. Freiräume für die einzelnen Schulstandorte schaffen und so inklusive Praktiken, wie Projektunterricht oder wirkliche alternative Leistungsbeurteilung, ermöglichen. Einbeziehung der Sonderschulen, aber auch der Gymnasien in partizipative Entwicklungen an den lokalen Standorten mit einem klaren Ziel: Transfer der sonderpädagogischen Kompetenzen in die allgemeinen Schulen, aber nicht im Sinne einer Sonderpädagogisierung der Regelpädagogik, sondern zur Absicherung eines produktiven Umgangs mit Heterogenität in inklusiven Schulen. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit mit gelungenen Beispielen verstärken. Klare Botschaften zu den Zielsetzungen an alle anderen Akteure senden. Bildungspraxis Interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken, dafür Strukturen und Praktiken entwickeln. Partizipation aller Beteiligten (Lehrpersonen, weiteres Personal, Erziehungsberechtigte, Schüler_innen,) erhöhen, die Schulen für das kommunale Leben öffnen, Vernetzungen und damit auch Unterstützungsstrukturen schaffen. Aktives, adaptives und kooperatives Lehren und Lernen durch entsprechende Unterrichtsgestaltung stärken. Diagnosekompetenz und didaktisch-methodische Kompetenzen zur Personalisierung des Lernens erhöhen. Angemessene Schulraumgestaltung für inklusives Lernen und Zusammenwirken entwickeln. Den Einsatz assistierender Technologien zur besseren Individualisierung des Unterrichts und zur Kompensation von Sinnesschwächen oder körperlich-motorischen Beeinträchtigungen verstärken. Erhöhung der gesetzlich vorgeschriebenen Barrierefreiheit (räumlich, technisch, sprachlich, sozial). So würden z.B. die Anwendung des Konzepts Leichte Sprache und gezielte positive Diskriminierung durch die Aufnahme eines bestimmten Prozentsatzes von Kindern unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergrunds in jede Schule, auch in vom Staat geförderten Privatschulen helfen, die kommunikativen und sozialen Aspekte der Barrierefreiheit umzusetzen. Sich mit eigenen Haltungen und Einstellungen sowie mit jenen, die in inklusiven Konzepten impliziert sind, auseinandersetzen. Eigene Praktiken und Routinen auf ihre Kompatibilität mit diesen Werten untersuchen und, wo nötig, Alternativen entwickeln. Alternative Kompetenzen und Handlungsweisen verstehen und eine routinierte Sicherheit in ihrem Praktizieren erwerben. Bereit sein zur Übernahme von Verantwortung für das Lernen aller Schüler_innen und zur umfassenden Schulentwicklung (organisatorisch, unterrichtlich, personell). Bildungswissenschaft (Lehre und Forschung) Neudefinition von Theorie und Praxeologie der Sonderpädagogik und der Fachdidaktiken, Entwicklung eines neuen Forschungs- und Lehrgebietes „Inklusive Pädagogik“, das Erkenntnisse der bisher getrennten Fachgebiete – insbesondere die der Sonderpädagogik, Integrationspädagogik, Interkulturelle Pädagogik, gendergerechte Pädagogik und Hochbegabtenförderung – zur Absicherung der Heterogenität in einem inklusiven Bildungssystem vereint, transferiert und weiterentwickelt. „So wie die Elementarpädagogik, die Grundschulpädagogik, die Sekundarstufenpädagogik oder die Berufspädagogik hat auch die Inklusive Pädagogik eine spezifische Zielgruppe, nämlich vulnerable und marginalisierte Personen, die aufgrund ihrer Lebens- und Lernbedingungen ohne besondere Unterrichts- und Erziehungsmaßnahmen ausschlussgefährdet sind. Um dies zu verhindern, erforschen, entwickeln und lehren die ExpertInnen des Fachbereiches Inklusive Pädagogik strukturelle, pädagogische, didaktische und methodische Adaptierungen des gemeinsamen Unterrichts (z.B. neue Ressourcenvergabemodelle, diagnostische Verfahren zur Lernprozessbegleitung, lernfördernder Einsatz digitaler Medien, unterstützte Kommunikationsformen, Abbau von Lernbarrieren, …)“ (PädagogInnenbildung NEU 2012, 7). Weiterentwicklung der Lehrer_innenausbildung: altersbezogene anstelle schulartenbezogener Ausbildung, Verankerung der Inklusiven Pädagogik in allen Lehramtscurricula in ausreichendem Ausmaß, Ausbildung von „generalisierten SpezialistInnen“ sowie rasche und bedarfsgerechte Angebote an bedarfsorientierten Lehrer_innenfort- und -weiterbildungen. Qualifizierung von Schulleiterinnen und -leitern, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für inklusive Schulentwicklung an jeder Schule. Aufbau einer umfassenden wissenschaftlichen Begleitung der IMR, ähnlich der Begleitung integrativer Schulversuche in den 1990er-Jahren. Deren Forschungsfokus sollte sowohl entwicklungsstützend-formativ als auch ergebnisbewertend-summativ sein und sich nicht allein auf die Klasse, sondern auf die Schule und Kommune richten. Kooperation mit inklusiven Schulen und Lehrer_innen zur Materialentwicklung für effektive und effiziente Personalisierung des Lernens. Literatur Altrichter, H. (2011): Governance – Steuerung und Handlungskoordination bei der Transformation von Bildungssystemen. In: Akademien der Wissenschaften Schweiz (Hrsg.): Zukunft Bildung Schweiz. Une éducation pour la Suisse du futur. Bern: Akademien der Wissenschaften Schweiz, 51-94. Altrichter, H. (2015): Governance in Education: Conceptualization, Methodology and Research Strategies for Analysing Contemporary Transformations of Teacher Education. In: D. Kuhlee, J. van Buer & C. 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Quelle
Ewald Feyerer, Herbert Altrichter: Die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems.; Erschienen in: Feyerer, Ewald [Hrsg.]; Prammer, Wilfried [Hrsg.], Prammer-Semmler, Eva [Hrsg.], Kladnik, Christine [Hrsg.], Leibetseder, Margit [Hrsg.], Wimberger, Richard [Hrsg.]: System. Wandel. Entwicklung. S. 74-92 Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2018.
bidok – Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet
Stand: 15.10.2019
Quelle ist von bidok.uibk.ac.at