BVB im Favre-Dilemma: Selbst Ergebnisse reichen nicht mehr

Ausgerechnet beim großen Favoriten FC Barcelona soll Borussia Dortmund
endlich für die Trendwende sorgen. Der in den letzten Wochen auffällig
uninspirierte, körperlose und instabile Fußball des BVB soll überwunden
werden, in der Champions League (ab 21:00 Uhr im sport.de-Liveticker) neue
Euphorie für die zuletzt desaströs laufende Bundesliga entfacht werden.
Glauben die Dortmunder überhaupt selbst an diese Kehrtwende unter einem
schwer angeschlagenen Cheftrainer Lucien Favre? Echte Aufbruchstimmung
vermittelt dieser schon lange nicht mehr.

Lucien Favre ist ein Meister darin, seine Gegenüber nach Pressegesprächen
mit mehr Fragezeichen auf dem Kopf zu hinterlassen als vorher. Das stellte
der Schweizer am Dienstag auf der PK vor dem Barca-Duell einmal mehr unter
Beweis.
Auf die Nachfrage, ob er die kommenden Partien gegen die Blaugrana und in
der Liga bei Hertha BSC als „Spiele auf Bewährung“ empfinde, entgegnete
Favre gewohnt ausweichend: „Ich denke, wir haben Druck. Der Druck ist immer
da. Egal, wo du trainierst oder du spielst.“ 

Mit seiner speziellen Art tun sich die Menschen in Fußball-Dortmund schwer.
Die begeisterungs- und leidensfähigen Schwarz-Gelben – ob direkt im Verein
oder als Anhänger auf der Tribüne – hatten von Beginn an ihre Probleme mit
der Nüchternheit und spröden Sachlichkeit ihres Cheftrainers. Der sportliche
Erfolg kaschierte diese Antipathien lange Zeit.
Favres großes Problem beim BVB: So, wie der 62-Jährige in der Öffentlichkeit
auftritt und spricht, so coacht er auch – und viel schlimmer: So spielt
Borussia Dortmund mittlerweile auch Fußball.

Hadernd, unentschlossen, emotionslos! Dortmunds Kapitän Marco Reus kann sich
noch so sehr über
Nachfragen zu angeblich fehlender Mentalität und fußballerischer
Begeisterung aufregen. Die Defizite im kämpferischen und emotionalen
Bereich sind und bleiben unverkennbar. 

Favre lebt eingeforderten Kampfgeist nicht vor

Die spieltaktischen und fußballerischen Probleme bei Borussia Dortmund
ziehen sich bereits wie ein roter Faden durch das Spieljahr: das lahme
Umschaltspiel, die extreme Anfälligkeit bei gegnerischen Standards, die
zunehmende Anfälligkeit bei Kontern und neuerdings auch die fehlende Ball-
und Passsicherheit.

Mit der richtigen Einsatzbereitschaft und Leidensfähigkeit ließen sich diese
Baustellen mindestens überdecken, wenn nicht sogar ausmerzen. Doch
dieses Wehren und Ankämpfen gegen die eigenen Schwächen müsste vor allen
Dingen der Trainer selbst vorleben, im Training und während der 90 Minuten.
Und genau das passiert beim BVB nicht.
Favre hat es nicht geschafft, dass sich seine Spieler für ihn zerreißen
wollen. Die wöchentlichen Forderungen von Reus, Hummels und Co. nach mehr
Körperlichkeit und mehr Überzeugung im eigenen Spiel waren kaum mehr als
Lippenbekenntnisse.
Schließlich war es der BVB-Kapitän selbst, der in den letzten Partien
weniger durch Laufstärke und Zweikampfführung als mehr durch Lamentieren und
eigene Stockfehler auffiel. Vor den wohl letzten Bewährungschancen für Favre
gegen Barcelona und Berlin übte sich Reus erneut in Durchhalteparolen: „Wir
dürfen und können die Verantwortung nicht immer weiterschieben.“

Selbst starke Resultate könnten zu wenig sein 

Das Dortmunder Dilemma: Die Wahrscheinlichkeit, dass der BVB rein
ergebnistechnisch gestärkt aus dieser Woche der Wahrheit hervorgeht, ist gar
nicht so klein. Schon ein Punktgewinn im Camp Nou wäre als Erfolg zu
verbuchen, selbst mit einer knappen Niederlage könnten die schwarz-gelben
Bosse wohl leben. Und gegen zuletzt desolate Herthaner ist ein Sieg am
Wochenende auch mit einer absoluten Durchschnittsleistung drin. 

In diesem Fall würden die Dortmunder Probleme nur noch weiter in den Winter
verschleppt werden, statt zum ehrlichen und groß angelegten Befreiungsschlag
auszuholen. 

Auch in der Beziehung Trainer/Spieler lagen die Defizite zuletzt tiefer. Es
ging um das große Ganze, die Systemfrage. Die Führungsspieler Reus und
Hummels zweifelten offen daran, warum gegen Aufsteiger Paderborn zunächst am
4-2-3-1-System mit zwei defensiven Absicherungen festgehalten wurde. „Im
4-1-4-1 tun wir uns leichter zu pressen. Ich belasse es dabei“, so Hummels
eindeutig. Reus fügte zur katastrophalen ersten Halbzeit hinzu: „Wir wissen
gar nicht, wie wir richtig pressen sollen. Und das sollte uns zu denken
geben.“ 

Zu denken geben sollte den hochbezahlten Profis auch, wieso sie in Sachen
Kampfgeist, Disziplin und Mentalität so viele Defizite offenbaren. Allein
mit individueller Klasse und Tempoverschärfungen nach Rückständen reicht
es in der Bundesliga nur zu einen Mittelfeldplatz. Bezeichnend: Der
Vorsprung auf die zweite Tabellenhälfte beträgt nach zwölf Spieltagen gerade
einmal drei Punkte. 

Watzke kämpferisch: „Wir sind immer noch Borussia Dortmund“

BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke brachte es zuletzt in seiner
leidenschaftlichen Ansprache auf der Jahreshauptversammlung des Vereins auf
den Punkt: „Wir sind immer noch Borussia Dortmund. Aber das muss man auch
sehen!“
Damit sprach der BVB-Boss den über 150.000 Mitgliedern offenkundig aus der
Seele. Der Basis eines Klubs, der gerade in sportlich kniffligen Situationen
mit fußballerischer Arbeit und Leidenschaft hervorstechen muss statt mit
Individualität und Glanz.

Dass das Urvertrauen in den Cheftrainer verloren gegangen ist, war in den
letzten Tagen nicht zu übersehen. Watzke verlor auf der JHV über den Coach
keine Silbe mehr als unbedingt nötig: „Lucien, du hast auch weiter unser
Vertrauen. Aber: Es ist auch eins klar, und du bist schon so lange im
Fußball dabei: Am Ende ist Fußball auch immer über Ergebnisse definiert.“

Schon bald könnten Favre sogar bessere Ergebnisse nicht mehr reichen, um ihn
auf seinem Stuhl zu halten.
Mats-Yannick Roth

Quelle: www.sport.de