Auf Noppen und Rippen durch „Irankfurt

Stadtführungen gibt es viele. Aber eine, bei der es darum geht, möglichst wenig zu sehen, ist neu. Mit dem Blindenstock geht es durch die Altstadt.
Von Karen Allihn
Mit Brillen über Rillen: Brigitte Buchsein (zweite von rechts) hat ihr Augenlicht bereits als Kind verloren und führt Monika Sturm, Linde Roth und Sabine Mannel (von links) durch ein Frankfurt, das sie so noch nicht kannten.
Mit Brillen über Rillen: Brigitte Buchsein (zweite von rechts) hat ihr Augenlicht bereits als Kind verloren und führt Monika Sturm, Linde Roth und Sabine Mannel (von links) durch ein Frankfurt, das sie so noch nicht kannten. Marina Pepaj
Fortgeschrittener grauer Star oder doch lieber Makula-Degeneration? Brigitte Buchsein hält in jeder Hand einen Stapel Brillen. Keine Sehhilfen, sondern Pappmodelle, die laut Aufschrift „typische Auswirkungen der Augenkrankheit simulieren“. Ihr selbst hat das Leben keine Wahl gelassen. Brigitte Buchsein ist im Säuglingsalter erblindet. Dass sie lediglich hell und dunkel wahrnehmen kann, sagt die heute Fünfzigjährige, habe sie jedoch von Jugend an nicht daran hindern können, ihren Lebensraum immer „sehr neugierig und an Geschichte interessiert“ zu erkunden.
„Frau Buchsein kennt alle Führungen der Kulturothek“, bestätigt die Leiterin der Agentur für Stadthistorie, Sabine Mannel. Vor einigen Wochen habe sie Buchsein deshalb gefragt, ob sie nicht den „Augenmenschen“ einmal die Welt aus der Perspektive blinder und sehbehinderter Menschen erklären wolle. Und so leitet Buchsein, die als Software-Entwicklerin bei einem Versicherungsunternehmen in Oberursel arbeitet, jetzt erstmals selbst einen Rundgang. Nachdem alle Teilnehmer der Stadtführung mit einer Spezialbrille ausgestattet sind, geht es los: „Durch Frankfurt ohne Augenlicht“.
Keine 20 Meter weiter stößt Buchsein mit ihrem weißen Blindenstock auf im Pflaster quer verlaufende Rillen. Sie hält inne und folgt dem Lauf der Furchen nach links. Die bewegliche Holzkugel am unteren Ende ihres mehrgliedrigen, auf Handtaschenformat zusammenlegbaren Stabes weist den Weg. „Ich nenne ihn gern verlängerter Zeigefinger, denn ich spüre damit die Struktur des Bodens und auch Hindernisse“, sagt die Frau mit den wilden roten Locken. Außerdem vermittle das seit etwa 1950 international verbreitete Hilfsmittel der Umwelt ganz klar, welche Behinderung sein Benutzer habe.
Die Rillen unter ihren Füßen werden von Platten mit kleinen Erhebungen abgelöst. Blinden und Sehbehinderten geben diese Bodenstrukturen Orientierung und damit im öffentlichen Raum ein Stück Unabhängigkeit. Die Längsrippe bedeute „Weiter so“, die Querrippe dagegen „Stop“, erklärt Buchsein. Die im Quadrat angeordneten Noppenplatten wiederum heißen „Aufmerksamkeitsfelder“ und vermitteln die Botschaft: „Hier passiert etwas“, lernen die Teilnehmer der Führung. Die Erfindung solcher Bodenindikatoren gehe auf den Japaner Seiichi Miyake zurück, erzählt Buchsein. Er erfand 1965 für einen blinden Freund ertastbare Leitsysteme, die heute DIN-genormt weltweit verlegt werden. Meistens weiß gefärbt, verlaufen sie entlang von Bahnsteigkanten und Bushaltestellen, sichern Straßenkreuzungen oder weisen Blinden und Sehbehinderten den Weg zu Ampeln mit akustischen Signalen. In der neuen Frankfurter Altstadt allerdings sind die Noppenplatten hellgrau, aus Granit gefertigt, und die gerippten Marker aus anthrazitfarbenem Basalt.
„Ein hart erkämpfter Kompromiss“, sagt Marion Spanier, ein Zugeständnis an ein ruhiges Straßenbild. Zusammen mit dem Behindertenbeauftragten der Stadt und anderen Experten hat die Projektleiterin der Dom Römer GmbH das Blindenleitsystem für die rekonstruierten Gassen zwischen Dom und Römer entwickelt. Doch sei es unmöglich gewesen, berichtet die Ingenieurin, dabei allen Interessengruppen gerecht zu werden. „Die klare Kante des Bordsteins, die für den Blinden zur Orientierung gut ist, ist für den Rollstuhlfahrer schlecht.“ In der Bordstein-Frage fiel die Entscheidung zugunsten gehbehinderter Menschen aus. So gibt es etwa „Hinter dem Lämmchen“ zwischen Bürgersteig und Straße, die als Fußgängerzone genutzt werden, keinen Höhenunterschied. Mit dem Blindenstock ist dennoch ein Kontrast fühlbar: Das Bodenpflaster des Trottoirs hat ein kleineres Format als das der Straße.
„Jeder soll in der neuen Altstadt autark unterwegs sein können“, sagt Spanier mit Nachdruck. Für die ebenso neugierige wie geschichtsbewusste Brigitte Buchsein sind dieser Forderung Grenzen gesetzt. Zwar ist sie, verschiedenen Bodenrippen folgend, dann wieder Aufmerksamkeitsfelder beachtend, gut über den Hühnermarkt bis zum Stadthaus gelangt. Am Fuß der Treppe jedoch, die in die Präsentation der „Kaiserpfalz franconofurd“ hinabführt, steht sie ohne jede Orientierungshilfe da.
Dass das breite Treppengeländer nicht für die Plazierung von Informationen in Blindenschrift genutzt wurde, kann die couragierte Frau nicht verstehen. Seit Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich im Vorstand des Blinden- und Sehbehindertenbundes Hessen für ihr „Herzensthema“, die Mobilität blinder Menschen. Sie hält Vorträge, besucht Schulen. Und nun das: Der Informationsfilm läuft ohne Ton, das schöne neue Modell der karolingischen Anlage weist keine Erklärungen in erhabenen Buchstaben oder in der für Blinde ertastbaren Brailleschrift auf. „Aber immerhin, ich kann das Modell anfassen“, tröstet sich Buchsein.
Von Sabine Mannel am Arm ins Freie geführt, erreicht sie mit ihrer Truppe den Krönungsweg. Ein junger Osteuropäer hat auf seinem Akkordeon gerade die letzten Töne von Johann Sebastian Bachs berühmter d-Moll-Toccata in den grauen Novemberhimmel entlassen. Stimmt er jetzt nicht die Händel-Arie „Meine Seele hört im Sehen“ an? Für Menschen, die ihre Umwelt nur noch schemenhaft erkennen oder ihr Sehvermögen vollständig eingebüßt haben, ist es vielleicht gerade umgekehrt: Ihre „Seele“ sieht im Hören?
„Man nutzt alle Sinne“, sagt Buchsein entschieden. Doch neben dem Fühlen, Hören und etwa Riechen sei noch etwas sehr wichtig: ein gutes Gedächtnis. Von oft benutzten Wegen präge sie sich, zunächst geführt von Bekannten oder speziell ausgebildeten Lehrern, den Verlauf genau ein. Doch bevor sie neue Strecken im Kopf abspeichere, überlege sie immer gründlich, ob sie diese wirklich häufig nutzen werde und sich das Auswendiglernen lohne.
Am Steinernen Haus endet der Krönungsweg und damit auch die Pflasterung der neuen Altstadt. Vor der Gruppe liegt jetzt der Römerberg – ohne jeden Bodenindikator. „Sukzessive über die Jahre“, sagt Projektleiterin Spanier, „soll auch hier ein Blindenleitsystem installiert werden. Es gibt auch die Idee, einen Stadtplan in Brailleschrift zu entwickeln.“
Noch allerdings ist Buchsein auf dem Weg zum letzten Ziel ihrer Führung, dem gegenüber vom Haus Wertheim aufgestellten Modell des Historischen Museums, auf Hilfe angewiesen. Die Struktur der vielteiligen Anlage mit Saalhof und Kapelle, Burnitz- und Bernusbau, Rententurm und Neubauten kann sie dank der speziellen Beschriftung des Modells gut erfassen. „Ich liebe so etwas“, lautet das begeisterte Fazit – mit einer Einschränkung: „Beim ersten F in Brailleschrift fehlt ein Punkt. Hier steht Irankfurt.“
Obwohl der kalte Wind inzwischen feinen Regen vor sich herbläst, verzichtet Buchsein auf Kapuze und Regenschirm. Wichtiger sei für sie, gut hören zu können und die Hände für den Stock und zum Tasten frei zu haben. Am Fußgängerüberweg zwischen Römerberg und Paulsplatz endet die Tour. Keine Ampel hält hier den Verkehr auf, kein Bordstein hemmt den Tritt, nirgends Rippen oder Noppen, die auf die kreuzende Braubachstraße hinweisen. Trotzdem möchte Buchsein in einer solchen Situation nicht einfach am Arm genommen werden. „Es ist besser, Hilfe erst einmal nur anzubieten, die Entscheidungshoheit sollte immer dem Angesprochenen überlassen werden.“ Linde Roth, eine 70 Jahre alte Teilnehmerin der Führung, sucht, inzwischen ohne Simulationsbrille, betroffen nach Worten: „Das ist alles viel intensiver und aufwendiger, als ich gedacht habe.“
Die nächsten Stadtführungen „Durch Frankfurt ohne Augenlicht“ finden am 26. Januar, 23. Februar und 29. März 2020 statt. Treffpunkt ist jeweils um 14 Uhr im Haus Hinter dem Lämmchen 9. Um Anmeldung unter der Telefonnummer 28 10 10 wird gebeten.
Quelle ist von https://edition.faz.net/faz-edition/rhein-main-zeitung/2019-11-28