[Elch] das Weihnachtswunderkraut

Autor: Traudl Wirsing
Der heftige Schneefall der vergangenen Tage hat das kleine Holzhaus, das
grau verwittert und ein wenig windschief am Waldrand steht, bis an die
Fensterscheiben mit einer dicken, glitzernden Schneedecke fest eingehüllt.
Drinnen in der niedrigen Stube machen sich der Beni, der Wasti und die Anne
gerade fertig für den Gang zur Christmette.
Es ist erst Mittag, aber die Kinder haben eine lange und beschwerliche
Strecke zum Dorf vor sich. Außerdem sollen sie noch bei der alten Maga
vorbeischauen.

„Bleibt beisammen und achtet auf den Weg“, schärft ihnen der Vater ein, „und
betet für die Großmutter.“ Bedrückt senken die Kinder die Köpfe und nicken.
Die Eltern haben ihnen schon vor einiger Zeit gesagt, dass es dieses Jahr
wohl ein trauriges Weihnachten werden wird, weil Gott die Großmutter bald zu
sich in den Himmel holen will. Und das Christkind wird wie all die Jahre
vorher den Weg zu ihrem Haus auch wieder nicht finden.

Durch den stillen, tief verschneiten Wald stapfen sie mühsam bergauf.
Erschöpft erreichen sie endlich die kleine Lichtung, auf der einsam und mit
qualmendem Kamin das halb verfallene Haus der Maga steht.

Ängstlich fassen sich die Kinder an den Händen. So richtig geheuer ist es
ihnen hier nicht! Über die alte Maga wird im Dorf allerhand gemunkelt. Eine
Hexe soll sie sein, eine richtige Kräuterhexe.

„Da seid ihr ja endlich!“, ruft eine helle Stimme. „Nur herein mit euch!“

Zögernd treten die Kinder in einen dämmrigen Raum, in dem ein gewaltiger
Holzofen steht. Aus verschiedenen Töpfen und Tiegeln dampft und brodelt es,
und die Luft ist erfüllt von aromatischen Düften. Der Beni staunt: So hat er
sich das Hexenhaus nicht vorgestellt! Und die Maga? Jetzt, da sie die Kinder
freundlich an den Tisch bittet und ihnen dicke Honigbrote und warme Milch
aus blank gescheuerten Bechern kredenzt, schwindet bei ihm die Furcht und
die Zurückhaltung.

„Maga“, sagt er schmatzend, „die Mutter hat uns aufgetragen, dass wir bei
dir etwas für die Großmutter abholen sollen; etwas, das zumindest ein wenig
gegen die schlimmsten Schmerzen hilft.“ Auf Maga´s Gesicht zeigt sich ein
zahnloses Lächeln.
Unverständliches murmelnd nickt sie den Kindern zu und bückt sich
schließlich ächzend nach einer mit groben Beschlägen versehenen Holztruhe,
aus der sie einen verknautschten Lederbeutel mit kleinen Tontiegeln und
grauen Leinensäckchen zieht. Dann erklärt sie den Kindern ganz genau, wie
die verschiedenen Salben und Kräuter anzuwenden sind.
Zum Schluss kramt sie umständlich und geheimnisvoll ein Glasfläschchen mit
einer braunen Tinktur hervor: „Und das hier ist das Allerwichtigste – das
Weihnachts-Wunderkraut!“

Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund staunen die Kinder über das,
was die Maga mit erhobenem Zeigefinger zu erzählen hat.

„Ihr müsst nämlich wissen, dass das Weihnachts-Wunderkraut nur an einem
einzigen Tag im ganzen Jahr wirkt – am Heiligabend!“ Sie sieht die Kinder
der Reihe nach eindringlich an.
„Und auch dann hilft es nur, wenn man fest daran glaubt, dass die kranke
Person wieder gesund wird, und wenn man zum Jesuskind betet, dass es alles
wieder zum Guten wendet.“

Der Beni kann es kaum fassen: Ein Wunderkraut? – Kann denn das der
Großmutter wirklich helfen? Kann man der Maga trauen? – Er hofft es von
ganzem Herzen.

Als sich die Kinder etwas später von der Maga verabschieden und zur
Christmette aufbrechen, dämmert es bereits.

In der Kirche hält der Beni das Glasfläschchen so fest an sich gepresst,
dass seine Finger schmerzen. Er kann es gar nicht erwarten, heimzukommen,
damit die Großmutter die wundersame Tinktur einnehmen kann. Aber zuerst muss
er ja noch ein Gebet sprechen.

„Bitte, liebes Jesuskind, hilf!“, flüstert er.
In den Augen seiner Geschwister schwimmen Tränen. Der Beni weiß, dass sie
genauso wie er um das Leben der Großmutter beten.

„Glaubt ihr wirklich, dass sie wieder gesund wird?“, fragt die kleine Anne,
als sie sich nach der Christmette auf den Heimweg machen.
„Ganz bestimmt!“, ruft der Wasti. „Die Großmutter wird nicht sterben.
Heute ist das Jesuskind geboren und das ist das Wunderbarste, das es auf der
ganzen Welt gibt. Der liebe Gott lässt doch in so einer Nacht nichts
Schlimmes passieren!“

So schnell sind die Kinder noch nie durch den tief verschneiten Winterwald
gestapft. Sie keuchen und ächzen. Immer wieder rutscht einer in der
Dunkelheit aus. Der Wasti weint leise, weil er sich an Hand und Ellbogen
verletzt hat. Aber nichts und niemand kann die drei jetzt aufhalten: Sie
wollen auf dem allerkürzesten Weg die wundersame Tinktur zur Großmutter
bringen.
Der Vater und die Mutter haben dem Beni mit Kopfschütteln und ungläubigem
Staunen zugehört, als er ihnen atemlos erzählt, was die Maga gesagt hat.
So etwas kann es doch gar nicht geben! – Oder doch?

Die Mutter hat sich ein paar Mal über die Augen gewischt und schließlich den
Vater ernst angeschaut. Der hat ihr lächelnd zugenickt und die Hände zum
Gebet gefaltet.

Den ganzen Abend über kümmern sich Eltern und Kinder abwechselnd um die
Großmutter.
„Du wirst ganz bestimmt wieder gesund.“ Liebevoll drückt der Beni die
derben, runzeligen Hände. „Du musst nur fest daran glauben.“

Im flackernden Schein einer Wachskerze erzählt der Vater am Küchentisch
leise flüsternd die Geschichte von der Heiligen Nacht. Die kleine Anne ist
erschöpft auf dem Schoß der Mutter eingeschlafen.
Plötzlich raschelt es im hinteren Teil der Stube. Die Großmutter hat die
Decke zurückgeschlagen und sich ein wenig im Bett aufgerichtet. Ihre Augen
leuchten. Auf ihren Wangen zeigt sich eine leichte Röte und ein Strahlen,
wie es die Kinder noch nie gesehen haben, geht über ihr Gesicht.