Elke Bräunling
Es war einmal ein kleiner Engel, der hatte viele kleine Sternchen auf seinem
Gewand. Es waren so viele, dass keiner sie zu zählen vermochte. An manchen
Tagen leuchteten und blinkten sie alle zusammen um die Wette, dann nämlich,
wenn der kleine Sternenengel glücklich war. Manchmal funkelten weniger
Sterne auf seinem Kleid. Dann war der kleine Engel nicht ganz so froh. Es
gab auch Tage, da sah man keinen einzigen Stern auf seinem Gewand. Das waren
die Tage, an denen der kleine Engel traurig war. Auch einem Engel konnte
dies nämlich passieren. Das war schlimm, denn wenn der kleine Sternenengel
traurig war, musste er weinen, und wenn er weinte, purzelten die
Lichtgeister, die für das Sternenfunkeln verantwortlich waren, wie
Tränenbäche aus seinem Gewand. Leider passierte dies oft, denn der kleine
Sternenengel war oft traurig.
„Du darfst nicht so viel weinen!”, sagten seine Gefährten.
„Aber ich bin so oft traurig!”, klagte der kleine Engel.
Das konnten die anderen Sternenengel nicht verstehen. „Warum bist du so oft
traurig?”, fragten sie. „Am Himmel im Dunkeln zu funkeln macht doch Freude!“
Der kleine Sternenengel schüttelte den Kopf. „Wie kann ich mich freuen, wenn
ich auf die Erde sehe?”, fragte er. „So viel Not herrscht dort und so viel
Elend. Wie kann ich da fröhlich funkeln?“ „Das Erdenelend macht dich
traurig?”, fragte einer der Engel.
„Was geht es uns an?”, meinte ein anderer.
„Die Erde ist so weit weg!“
„Unser Job ist das Leuchten!“
Die Engel waren sich einig.
„Licht soll Hoffnung bringen“, murmelte der kleine Engel, doch es hörte ihm
keiner mehr zu. Und während seine Gefährten miteinander um die Wette
funkelten, spähte er wieder auf die Erde hinab. Sogleich fiel sein Blick
dorthin, wo Not herrschte: Er sah einen Mann und eine Frau. Sie schienen arm
zu sein. Die Frau erwartete ein Kind. Müde schleppten sie sich durch die
Straßen einer Stadt, aber da war niemand, der sie aufnahm. An allen Türen
wurden sie abgewiesen. Als sie sich in einem dunklen Stall zum Schlaf
legten, zerbrach dem kleinen Engel fast das Herz vor Kummer. Zu gerne hätte
er ihnen geholfen.
„Licht soll Hoffnung bringen“, murmelte er nochmals betrübt. „Ach, was kann
ich bloß tun?“ Schon tropften die Tränen über seine Backen, und aus seinem
Gewand purzelte ein Lichtgeist nach dem anderen, bis der kleine Engel kein
einziges Sternchen mehr zum Funkeln übrig hatte. Da musste er noch mehr
weinen. Wie gerne wäre ich jetzt in dem Stall bei diesen ungeliebten, armen
Leuten, dachte er und schloss die Augen.
Auf einmal wurde es warm um ihn. Der kleine Engel blinzelte. Was war das?
Verwundert sah er sich um. Helles Licht strahlte ihm entgegen, und von
irgendwoher sang es.
„Was ist geschehen?”, murmelte er. „Wo bin ich?“ Er hörte ein leises Weinen.
Da sah er das Kind. Es lag in einer Krippe. In einem Stall.
Das ist doch der alte Stall! dachte der kleine Engel und freute sich. Wie
hell es hier war! Und der Mann und die Frau! Wie glücklich sie sich über die
Krippe beugten und dem Kind zulächelten!
Der kleine Sternenengel fühlte, wie alles in ihm lachte.
„Die Hoffnung“, jubelte er. „Sie ist da!“ Und er spürte, wie das Licht zu
ihm zurückkehrte und wie die Sternchen auf seinem Gewand zu funkeln
begannen. Der kleine Sternenengel war glücklich. Er warf einen liebevollen
Blick auf das Kind, die Frau und den Mann und
flüsterte:
„Danke.“ Dann schwebte er funkelglitzerhell und hoffnungsfroh zum Himmel
hinauf.
In dieser wundersamen Nacht strahlten die Sternchen auf dem Gewand des
kleinen Engels heller als alle anderen Sterne am Himmel. Der kleine Engel
war sehr froh, und er nahm sich vor, nie wieder die Hoffnung zu verlieren.
Er konnte aber nicht aus seiner Haut herausschlüpfen. Immer wieder
entdeckte er Dinge, die nicht schön anzusehen waren und die ihn so traurig
machten, dass er trotz aller Vorsätze weinen musste. Wie sollte er froh
sein, wenn Menschen miteinander stritten, wenn sie böse zueinander waren und
Kriege führten? Wenn sie hungerten, Not litten, einsam waren, Freunde oder
ihre Heimat verloren? Ein Grund zum Traurigsein fand sich immer, und so
landete der kleine Engel immer wieder weinend und frierend auf der Erde,
weil er seine Lichtgeister verloren hatte. Aber wie durch ein Wunder fand er
auch immer wieder ein Stück Hoffnung, und mit ihr kehrten die Lichtgeister
auf sein Sternengewand zurück.
Auch in diesem Jahr hatte der kleine Sternenengel sein Licht verloren. Das
war, als er in unserem Land Menschen entdeckt hatte, die eine neue Heimat
suchten. Doch sie schienen nicht willkommen zu sein. Der kleine Engel sah
Hass und Gewalt, und er hörte viele böse Worte.
„Wo sollen sie denn hin?”, empörte er sich. „Es ist doch genug Platz in
diesem reichen Land!“ Und weil er dies nicht begriff, musste er wieder
weinen. Er weinte und … landete in einer Stadt mitten in einem hellen,
warmen Lichtermeer. Viele Menschen, große und kleine, alte und junge, arme
und junge, standen auf den Straßen,und jeder hielt ein kleines Licht in der
Hand. Ein Licht gegen Hass und Streit und Gewalt. Es war eine funkelhelle
Lichterkette, und auch die Menschengesichter strahlten hell und freundlich.
Der kleine Sternenengel lächtelte. „Die Hoffnung“, rief er. „Sie ist immer
noch da!“ Da kehrten die Lichtgeister zu ihm zurück, und die Sternchen auf
seinem Gewand funkelten. Der kleine Sternenengel blinkerte den Menschen
einen Abschiedsgruß zu und kehrte zu seinem Himmelsplatz zurück. Er war
zufrieden.
Es gab sie noch immer, die Hoffnung. Und es würde sie auch immer geben.