Renate Schupp
Jetzt will ich Euch erzählen, wie Dang Fratzer einmal einen
Weihnachtsengel spielte.
Dang Fratzer geht in die dritte Klasse zu Frau Timm. Aber er sieht anders
aus als andere Kinder. Seine richtigen Eltern waren Vietnamesen. Dang ist
in Vietnam geboren. Das ist ein ganz fernes Land auf der anderen Seite der
Erde. Als Dang zur Welt kam, wütete gerade ein schrecklicher Krieg. Nie
möchte ich einem Kind wünschen, dass es in einem Land zur Welt kommt, in
dem gerade Krieg ist. Etwas Schllimmeres kann man sich nicht denken. Dangs
Eltern und alle seine Geschwister und Verwandten wurden von Soldaten
getötet. Nur er allein blieb zurück. Zum Glück war Dang noch klein und
begriff nichts. Jemand brachte ihn in ein Waisenhaus. Und eines Tages fuhr
er mit anderen Waisenkindern auf einem Schiff nach Deutschland und kam in
ein Kinderheim in unserer Stadt.
Dort sahen ihn Fratzers. Sie hatten ihn gleich so lieb, dass sie ihn mit
zu sich nach Hause nahmen und später adoptierten. Fratzers haben keine
eigenen Kinder. So ist Dang ihr Kind geworden. Er sagt Papa und Mama zu
Herrn und Frau Fratzer und ist ebenso gut deutsch wie jedes andere Kind in
der Straße.
Von Vietnam und vom Krieg weiß er nichts mehr. Nur nachts hat er manchmal
schlimme Träume. Dann schlägt er um sich und schreit. Aber am Morgen hat
er alles vergessen und ist wieder vergnügt.
Als Frau Timm nach den Herbstferien anfing, mit der Klasse ein
Krippenspiel einzuüben, wollte Dang unbedingt den Verkündigungsengel
spielen. Der Verkündigungsengel – das ist der, der den Hirten auf dem Feld
die Geburt des Jesuskindes verkündet. Die ganze Klasse lachte, als Dang
sich dafür meldete. Und Marion Holzapfel, die unter allen Umständen
selbedr den Engel spielen wollte, rief: „Quatsch! Ein Junge kann doch kein
Engel sein!“ „Kann er doch“, antwortete Dang eigensinnig. „Schließlich
heißt es der Engel!“
Und am anderen Tag kam er an und verkündete: „Mein Papa sagt, in der Bibel
sind die Engel überhaupt immer nur Männer und haben Männernamen.“ „Aber
sie sehen nicht vietnamesisch aus!“, rief Marion. „Sie haben helle, blonde
Haare und eine liebliche Stimme.“ Das mit der Stimme sagte sie, weil Dang
eine rauhe, brummelige Stimme hat.
Aber am nächsten Tag meldete sich Dang wieder und erklärte: „Mein Papa
sagt, in den biblischen Geschichten steht gar nichts davon, wie Engel
aussehen und was sie für Stimmen haben.“ „Das stimmt“, gab Frau Timm zu.
„Da hat Dein Papa Recht.“ Und um die Sache endlich zu entscheiden, machte
sie zwei Loszettel – einen leeren und einen, auf dem „Engel“ stand. Sie
ließ Dang und Marion ziehen. Und es war Dang, der gewann. Marion zog den
leeren Zettel und sollte bei den himmlischen Heerscharen mitsingen, weil
sie eine liebliche Stimme hat. Sie war so enttäuscht! Dang aber war der
eifrigste Verkündigungsengel, der jemals in der Kirche herumgeschwebt war.
Ja, es sah wierklich fast so aus, als ob er schwebte, wenn er in dem
weißen Gewand, das seine Mutter ihm genäht hatte, hinter dem Altar
hervortrat und mit hochgereckten Armen die himmlische Botschaft
verkündete.
Doch eines Tages kam er zur Probe und hatte den rechten Arm in Gips.
Stellt Euch vor, er hatte heimlich vom Garagendach aus „fliegen“ geübt,
weil er dachte, es wäre nützlich für einen Engel, wenn er wenigstens ein
klein wenig fliegen könnte. Leider war er bei der Landung so ungeschickt
aufgekommen, dass er sich den Arm gebrochen hatte. Frau Timm hörte sich
die Geschichte an und schüttelte bekümmert den Kopf. „Ich kann mir ja
wirklich alle Arten von Engel vorstellen“, sagte sie, „Jungen und Mädchen,
schwarz oder weiß oder vietnamesisch. Aber einen Engel mit Gipsarm? Wie
willst Du denn nun die Arme ausbreiten, wenn Du den Hirten die Botschaft
verkündest?“ Marion Holzapfel kam herbeigestürzt und rief: „Jetzt kann
Dang nicht mehr der Engel sein, nicht wahr, er kann kein Engel mehr sein?“
Aber Dang schob sie zur Seite und sagte zu Frau Timm: „Mein Papa sagt, es
kommt nicht darauf an, ob ein Engel die Arme ausbreiten kann oder nicht.
Es kommt auf die Botschaft an. Und die kann ich ja sagen!“ Und er riss den
Mund auf und ließ die Backenmuskeln spielen, damit jeder sehen konnte, wie
gut sein Mund in Ordnung war. Frau Timm seufzte. „Na schön“, sagte sie.
„Aber pass auf, dass Du Dir bis zur Aufführungnicht noch einen Zahn
herausbrichst.“ Das versprach dang.
So geschah es, dass in diesem Jahr der Verkündigungsengel schwarze,
struppige Haare hatte, vietnamesisch aussah und den rechten Arm in der
Schlinge trug. Die Leute, die am Heiligen Abend in die Kirche kamen und
sich das Krippenspiel anschauten, wunderten sich ein wenig darüber. Manche
dachten wohl, es sei noch gar nicht der richtige Verkündigungsengel. Aber
dann erhob er seine Stimme und sagte: „Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich
verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn Euch
ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der
Stadt Davids.“ Da begriffen die Leute, dass alles seine Richtigkeit hatte.