Theater zum Hören

Erinnert sich noch immer an einen „Faust“ zu Schulzeiten: Lavinia Knop-Walling in ihrer Wohnung in Berlin.
© Foto: Inga Dreyer/MOZ

Inga Dreyer / 15.01.2020, 09:00 Uhr
Berlin (MOZ) Wer Lavinia Knop-Walling in ihrer Berliner Wohnung erlebt, dem wird kaum auffallen, wie wenig sie sieht. „Hier bin ich zu Hause und weiß, wo alles steht. Deswegen kann ich mich so schnell bewegen“, erklärt die 30-Jährige, die für den Berliner Kulturverein Förderband arbeitet.
Beim Projekt „Berliner Spielplan Audiodeskription“ kümmert sie sich um das sogenannte Blinden-Marketing. Innerhalb von zwei Spielzeiten werden 16 Stücke an fünf Berliner Bühnen mit einem Live-Kommentar für Blinde und Sehgeschädigte gezeigt. Besucher erhalten einen Kopfhörer, mit dem sie sich den Kommentar anhören – ähnlich wie ein Audioguide im Museum, allerdings live.

Um über das Projekt zu informieren, nimmt Lavinia Knop-Walling Kontakt zu Vereinen auf, fährt zu Veranstaltungen, bespielt Social-Media-Kanäle und pflegt einen Blog, auf dem sie über ihre Theater-Besuche berichtet.

Die Zielgruppe zu erreichen sei nicht einfach. Viele Blinde und Sehbehinderte seien schon älter und schlecht über digitale Angebote zu erreichen, sagt Lavinia Knop-Walling. Zudem müsse sich erst herumsprechen, dass Theater überhaupt eine Option sei. Das weiß die Bloggerin und Autorin aus eigener Erfahrung, denn nach ihrer Schulzeit war sie selbst kaum noch im Theater. Als Jugendliche habe sie mit ihrer Schule für Blinde und Sehbehinderte in Königs Wusterhausen einige Stücke besucht. „Ich kann mich am besten an den ,Faust‘ erinnern, bei dem Gretchen rosa Hotpants trug“, erzählt sie und lacht.

Damals habe sie noch besser sehen können, sagt die 30-Jährige, die mit zwölf Jahren mit ihren Eltern aus Berlin nach Neuenhagen bei Berlin (Märkisch-Oderland) gezogen ist. Sie leidet an Retinitis pigmentosa, einer Degeneration der Netzhaut. „Je kleiner das Gesichtsfeld wurde, desto weniger habe ich gesehen“, erzählt sie.

Seit ihrer Kindheit liebt Lavinia Knop-Walling Geschichten: „Ich habe als frustrierter Teenager angefangen zu schreiben – mit unsäglichen Gedichten, über die ich gar nicht mehr nachdenken will.“ Heute hört sie Hörbücher, geht zu Schreibgruppen, verfasst Rezensionen und fiktive Geschichten. Einen Liebesroman hat sie bereits veröffentlicht.

Auch im Theater werden Geschichten erzählt. Aber für Blinde und Sehbehinderte sind diese schwer zugänglich. Auch abgesehen von Gretchens pinken Hosen spielt das Visuelle auf der Bühne eine zentrale Rolle. Warum ins Theater gehen, wenn man dem Geschehen kaum folgen kann?

Während des Studiums der Europäischen Medienwissenschaft in Potsdam sei ihr bewusst geworden, wie viele kulturelle Angebote für Blinde und Sehbehinderte unzugänglich sind, erzählt die junge Frau. Eine Arbeitsassistenz half ihr unter anderem beim Einscannen von Texten, die dann konvertiert und automatisch vorgelesen werden. Inzwischen arbeitet sie als selbstständige Autorin sowie Workshop-Leiterin und bekommt vom Landesamt für Gesundheit und Soziales dafür eine Assistenz zur Seite gestellt. Am Computer nutzt sie einen Screen-Reader, der ihr vorliest. „Die Computer-Stimme ist ziemlich nervig“, sagt sie. Der Vorteil sei, dass sich die Stimme sehr schnell und zeitsparend abspielen lasse. „Die meisten Sehenden können das Gesagte gar nicht verstehen, weil sie nicht daran gewöhnt sind.“ Viele Webseiten seien zwar visuell ansprechend, aber nicht besonders zugänglich gestaltet. Für Blinde und Sehbehinderte gelte: Je simpler, desto besser. „Das Internet ist immer noch eine richtig große Herausforderung“, sagt Lavinia Knop-Walling.

Auch für die Kulturanbieter ist Barrierefreiheit eine Herausforderung. Nach Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention sind sie verpflichtet, Zugangsmöglichkeiten zu schaffen. Sie profitieren aber auch selbst davon, inklusiver zu werden. Schließlich ist bei einer älter werdenden Bevölkerung damit zu rechnen, dass immer mehr Menschen schlecht sehen, hören oder gehen können.

Tastführungen vor den Stücken

Einige Museen in Berlin und Brandenburg organisieren regelmäßig Tastführungen für Blinde und Sehbehinderte. Außerdem werden immer mehr Hörfilme mit Audiodeskription angeboten. Auch einige Bühnen wie das Schauspiel Leipzig arbeiten seit Jahren mit Audiodeskription.

Die akustische Bildbeschreibung sei eine Kunst, betont die Bloggerin. Es gehe nicht darum, das Geschehen zu interpretieren, sondern es möglichst bildlich und verständlich zu erklären. Je mehr Menschen auf der Bühne, je komplexer das Bühnenbild und je abstrakter das Geschehen, desto schwieriger wird das.

Zentral seien die Tastführungen vor den Stücken, betont Lavinia Knop-Walling. Dabei können Blinde und Sehbehinderte Requisiten und Kostüme, das Bühnenbild oder auch die Bewegungen der Schauspieler ertasten. Einmal habe sie fast mitgetanzt, erzählt sie.

THEATERAUFFÜHRUNGEN MIT AUDIODESKRIPTION
Die nächsten Termine für Theater mit Audio-deskription sind:“Endangered Species“ von House of Living Colors, 18.1., 19.15 Uhr, Sophiensæle, Berlin-Mitte; T4-Gedenkveranstaltung „I Can Be Your Translator: Das Konzept bin ich“, 26.1., 15.45 Uhr, Sophiensæle, Berlin-Mitte; „Vivid Grand Show“, 7.2., 16.30 Uhr, Friedrichstadt-Palast, Berlin-Mitte; „Othello“ von William Shakespeare, 10.2., 17.30 Uhr, Berliner Ensemble, Berlin-Mitte.

Die Spielplan-Ansage informiert unter Tel. 030 27908776 über aktuelle Aufführungstermine mit Audiodeskription in Berlin.

Weitere Infos unter: blog.theaterhoeren-berlin.de

Quelle: ⇥https://www.moz.de/kultur/artikelansicht/dg/0/1/1778221