Sehr geehrte Damen und Herren,
Das kürzlich abgeschlossene Kooperationsprojekt „Zukunft der Brailleschrift“ der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (Schweiz) zeigt, dass die traditionelle Blindenschrift nach wie vor wesentlich ist für Lese- und Schreibkompetenzen von blinden und sehbehinderten Menschen – und damit für deren gesellschaftliche Integration.
Die Brailleschrift hat unter blinden und sehbehinderten Menschen noch immer einen hohen Stellenwert, wie eine Studie ergeben hat. Ergänzend werden aber auch assistive Technologien wie die Sprachausgabe benutzt.
Die Studie unter Leitung von Professor Dr. Markus Lang (Heidelberg) und Professorin Dr. Ursula Hofer (Zürich) veranschaulicht zudem, dass die Betroffenen vergleichbare Rechtschreibkompetenzen haben wie Menschen ohne Sehbeeinträchtigung. Das Projekt weist auch nach, dass Textzugänge mittels assistiver Technologien die Punktschrift in Papierform sinnvoll ergänzen, aber nicht ersetzen.
Lesen und Schreiben sind unhintergehbare Fähigkeiten, die von klein auf gelernt und ein Leben lang angewendet werden, um Ausbildung, Beruf und gesellschaftliche Teilhabe zu verwirklichen. Doch wie funktioniert das für blinde Menschen und Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung?
Seit nahezu 200 Jahren garantiert die aus tastbaren Punkten bestehende Brailleschrift diesem Personenkreis den Zugang zu schriftlicher Information und ermöglicht dadurch Bildung und Ausbildung. Im Zuge zunehmender Digitalisierung stehen sogenannte assistive Technologien wie die Sprachausgabe bei Computern und Smartphones der Brailleschrift zur Seite. Der auditive Informationszugang, also derjenige über das Anhören von Texten, erscheint im Vergleich zum Lesen schneller zu erfolgen und weniger Übungsaufwand zu erfordern. Wie wird Braille unter diesen Vorzeichen heute erlernt und genutzt? Lösen die assistiven Technologien die Blindenschrift zunehmend ab? Und wie ist es um die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten der Braillenutzenden bestellt?
Professor Dr. Markus Lang (Institut für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg) hat in Kooperation mit Professorin Dr. Ursula Hofer von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich von 2015 bis 2018 das größte deutschsprachige Forschungsprojekt zu diesem Thema durchgeführt. Die Ergebnisse von „ZuBra – Zukunft der Brailleschrift“ liegen jetzt vor.
Die Datenerhebung in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde in drei Etappen durchgeführt. Die Erhebung empirischer Daten bei allen Altersstufen fand 2015 in Deutschland und in der Schweiz statt; 819 gültige Fragebogen konnten ausgewertet werden. Die zweite Erhebung 2017 erreichte 190 Braillenutzende im Alter von elf bis 22 Jahren. Bei ihnen wurden mit standardisierten Tests Lese- und Hörkompetenzen sowie Rechtschreibung erfasst. 2018 schließlich wurden in der dritten Erhebung in zehn Fokusgruppen-Interviews zentrale Ergebnisse qualitativ reflektiert.
Ein zentrales Ergebnis der drei Erhebungen ist, dass alle Altersgruppen die Bedeutung der Brailleschrift auch heute als sehr hoch einschätzen. Die tendenziell etwas geringere Einschätzung bei den jüngsten Teilnehmenden im Alter bis 22 Jahre kann allerdings als Indiz dafür interpretiert werden, dass sich diese Altersgruppe in stärkerem Maße auditiven Informationszugängen zuwendet. Der von den jungen Teilnehmenden erzielte höchste Wert bei der tatsächlichen Nutzung von Sprachausgabesystemen unterstützt diese Interpretation.
Generell zeigt sich, dass das Lesen auf Papier nach wie vor eine bedeutende Rolle hat, auch wenn auditive Arbeitsweisen in allen Altersgruppen durchaus häufig angewendet werden. So wird die Sprachausgabe oftmals in Kombination mit dem Lesen auf der Braillezeile eingesetzt, also mit einem speziellen Computerausgabegerät, das Zeichen in Blindenschrift übersetzt. Professor Lang stellt fest: „Die Betroffenen kombinieren heute entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten und Vorlieben verschiedene Lese- und Schreibstrategien miteinander. Es ist also nicht so, dass die assistiven Technologien die Blindenschrift verdrängen – sie ergänzen einander vielmehr. Hören wie Lesen sind zwei je verschiedene Kompetenzen, wobei die eine keinen grundsätzlichen Ersatz für die andere darstellt.“ Die Vielfalt der Braillenutzung in Kombination mit assistiven Technologien lässt annehmen, so die Forscher, dass das Ausstattungsniveau mit lese- und schreibspezifischen Hilfsmitteln in Deutschland, Österreich und in der Schweiz im Schul-, Ausbildungs- und Berufsalter hoch ist.
Die Studie belegt erwartungsgemäß, dass für das Lesen der Brailleschrift zwei- bis dreimal mehr Zeit benötigt wird als für das Lesen ohne Sehbeeinträchtigung. Bestätigt wurde zudem die Annahme, dass Informationen schneller durch Hören als durch Brailleschrift-Lesen aufgenommen werden. Braille als Vollschrift wird im Durchschnitt mit achteinhalb Jahren erlernt, ihre Computer-adaptierte Form mit knapp zehn Jahren und die Kurzschrift mit elfeinhalb Jahren. Ein weiteres interessantes Ergebnis ist in diesem Kontext, dass es in allen Brailleversionen schnelle Leserinnen und Leser gab und diese in der Regel auf Papier lasen. Die Studie zeigt, dass eine früh einsetzende Brailleleseförderung die Lesegeschwindigkeiten erhöht.
Blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene weisen grundsätzlich altersgemäße Kompetenzen in der Rechtschreibung auf. „Nicht-Sehen wirkt sich also nicht negativ auf Rechtschreibkompetenzen aus“, betonen die Forscher. Hier wird aber auch sichtbar, dass die schnellen Leserinnen und Leser der Brailleschrift die Nase vorn haben: „Niedrige Werte in der Leseflüssigkeit und in der Lesegeschwindigkeit gehen einher mit niedrigeren Werten im Leseverstehen und in der Rechtschreibung“, erläutern Lang und Hofer. Am problematischsten sind durchgängig die Leistungen der Teilnehmenden, die dual Brailleschrift und vergrößerte Schwarzschrift nutzen. Diese Gruppe zeigte oftmals nur geringe Braille-Lesekompetenzen.
Welche Schlussfolgerungen können aus diesen Ergebnissen der ZuBra-Studie für den Schulunterricht gezogen werden? Die Nutzung der Sprachausgabe neben dem Lesen in oberen Klassenstufen ist eine schlichte Notwendigkeit zur Bewältigung des umfangreichen Unterrichtsstoffs. Der Einsatz auditiver Strategien sollte daher zielgerichtet, aufgaben- und fächerspezifisch sein. Effizientes Hören ist als Kompetenz dabei gezielt zu fördern. Hinsichtlich des Brailleschrift-Lesens gilt, dass angemessene Maßnahmen des Nachteilsausgleichs notwendig sind. Hinzutreten sollten ein früh einsetzendes individuelles Training von Lesekompetenzen und fächerübergreifendes Unterstützen regelmäßigen Lesens (insbesondere bei dualer Schriftnutzung). Für den Ausbau von Rechtschreibkompetenzen können zudem angemessene Kontrollmöglichkeiten des Schreibens wie etwa die gezielte Nutzung von Rechtschreibprogrammen hilfreich sein.
Quelle:
https://www.rehacare.de/de/News/Brailleschrift_ist_grundlegend_für_Bildung_und_Integration
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