Atropin-Tropfen gegen Myopie bei Kindern: Für wen empfehlenswert?

Dr. Klaus Fleck

Berlin – Die Erkenntnis, dass ins Auge getropftes Atropin einer Myopie
entgegenwirken kann, ist nicht neu. Allerdings gelang es erst in
jüngster Zeit und auf wissenschaftliche Studien gestützt, Empfehlungen
zur Anwendung dieser Form der Myopie-Prophylaxe zu geben, die für die
Praxis tauglich ist – weil sie weitestgehend nebenwirkungsfrei ist.

Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèze

Bei welchen Kindern und Jugendlichen sie in Frage kommt und wie
erfolgreich sie sein kann, erläuterte Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèze
von der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg auf
einer Pressekonferenz anlässlich des diesjährigen Kongresses der
Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) in Berlin [1] .
Fast jeder zweite junge Europäer kurzsichtig

Myopie – ihr liegt ein übermäßiges Wachstum des Augapfels im Kindes- und
Jugendalter zugrunde – wird per se zwar nicht als Krankheit, sondern
„nur“ als Fehlsichtigkeit angesehen. Sie ist neben dem Alter jedoch der
Hauptrisikofaktor für gravierende degenerative Augenerkrankungen im
späteren Leben, wie Glaukom, Katarakt, Makuladegeneration und
Netzhautablösung.

Und Myopie ist äußerst weit verbreitet: „In Europa wird aktuell knapp
die Hälfte der Bevölkerung bis zum jungen Erwachsenenalter kurzsichtig,
in den hoch entwickelten Regionen Asiens sind es sogar circa 80
Prozent“, berichtete Lagrèze. Meist beginnt der Prozess bereits im
Grundschulalter.

Wegen ihrer möglichen Spätfolgen ist es wünschenswert, die Progression
der Myopie in der Phase ihres Entstehens zu verlangsamen. Prof. Dr. Wolf
Alexander Lagrèz

„Wegen ihrer möglichen Spätfolgen ist es wünschenswert, die Progression
der Myopie in der Phase ihres Entstehens zu verlangsamen“, so der
Ophthalmologe. Dabei hilft Tageslicht-Exposition (Spielen bzw.
Aufenthalt im Freien über etwa 2 Stunden pro Tag) ebenso wie das
Vermeiden eines zu geringen Lese- und Nahsichtabstands (von weniger als
ca. 30 Zentimetern).

Im Rahmen klinischer Studien wurden darüber hinaus auch teilweise schon
länger bekannte therapeutische Ansätze neu evaluiert. „Als am
wirksamsten progressionsmindernd erwies sich dabei die Anwendung von
Atropin-Augentropfen“, so Lagrèze.
Optimale Konzentration von 0,01%

Die in anderen ophthalmologischen Indikationen üblichen
Atropin-Konzentrationen in Augentropfen von 0,5% oder 1% kommen hierfür
allerdings nicht in Frage: Denn die durch sie bewirkten Effekte
Mydriasis (mit daraus resultierender Blendung) und Akkomodationslähmung
(mit Nahsichtstörung) halten in solchen Dosierungen für eine
routinemäßige Anwendung zu lange an und sind daher als Nebenwirkungen
inakzeptabel.

Forscher aus Singapur fanden jedoch heraus, dass sich die
Myopie-Progression optimal mit täglich applizierten Atropin-Tropfen in
einer Konzentration von lediglich 0,01% deutlich bremsen bzw. etwa
halbieren lässt. „Seit der Publikation dieser Daten (in der „Atropine
for the Treatment of Myopia 2“ / ATOM-Studie) hat sich die Anwendung
niedrig dosierter Atropin-Tropfen zur Minderung der Myopieprogression
weltweit sehr schnell durchgesetzt und wird zunehmend auch in
Deutschland von Augenärzten verordnet“, konstatiert der Freiburger
Ophthalmologe.
Myopie-Progression mehr als halbiert

Mittlerweile wurden in mehreren Ländern Empfehlungen zur
Myopie-Prophylaxe mit Atropin-Tropfen unter augenärztlicher Kontrolle
formuliert, so auch in einer gemeinsamen Stellungnahme des
Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands (BVA) und der DOG. Erst
kürzlich bestätigte eine weitere prospektive, kontrollierte Studie aus
Hongkong den Nutzen der Therapie.

Als am wirksamsten progressionsmindernd erwies sich dabei die Anwendung
von Atropin-Augentropfen. Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèz

Und in einer aktuellen deutschen Fallstudie bei 56 Schulkindern
(Altersspanne 6 bis 17 Jahre) hatte die Tropfentherapie mit 0,01%iger
Lösung nach 12 Monaten eine Reduzierung der zuvor in diesem Kollektiv
festgestellten mittleren Myopie-Progression von 1,05 Dioptrien (dpt) auf
0,04 dpt bewirkt – das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit also sogar mehr
als halbiert. Allerdings gab es hier auch rund 10% Non-Responder, bei
denen die Therapie keinen Effekt hatte.
Therapie bislang nur off-label

Lagrèze empfiehlt den Einsatz der Atropintropfen ab einem Alter von 6
Jahren unter der Voraussetzung einer Myopie-Progression von mehr als 0,5
dpt pro Jahr. Die Anwendungsdauer sollte zunächst 2 Jahre betragen. Zu
den Effekten einer längeren Anwendung gibt es bisher noch keine
verlässlichen Erkenntnisse – auch nicht, bis zu welchem Alter genau die
Anwendung sinnvoll ist.

Der behandelnde Augenarzt hat die Eltern des Kindes oder Jugendlichen
darauf hinzuweisen, dass es sich hier um eine (nicht erstattungsfähige)
Off-label-Anwendung von Atropin handelt. Da es 0,01%ige Atropintropfen
nicht als Fertigware in der Apotheke gibt, müssen die Eltern mit der
augenärztlichen Verordnung eine Apotheke mit Sterilraum finden, in der
die Augentropfen in der gewünschten Konzentration hergestellt werden.
„Wichtig ist eine Tropfen-Zubereitung ohne Konservierungsmittel, da
sonst später Probleme mit trockenen Augen auftreten können“, so Lagrèze.
Ein Tropfen jeden Abend in jedes Auge

Und so sieht die praktische Anwendung aus: Die Eltern geben ihrem Kind
allabendlich vor dem Zubettgehen jeweils einen Tropfen in jedes Auge,
das darauf einsetzende unwillkürliche Blinzeln sorgt für die Verteilung
des Wirkstoffs.

Zwar sind auch hier akute Atropin-Wirkungen wie eine Pupillenerweiterung
nachweisbar, diese sind nach Aussage des Freiburger Ophthalmologen bei
einer Atropin-Konzentration von 0,01% jedoch so gering, dass sie am
darauffolgenden Morgen in aller Regel keine Beeinträchtigung des Sehens
mehr darstellen. Kontraindikationen für die Therapie seien bisher keine
bekannt.

Um die bisher vorwiegend in asiatischen Populationen gewonnenen
Erkenntnisse zur Myopieprophylaxe mit Atropin-Tropfen mit Daten aus
westlichen Ländern zu ergänzen, sind Lagrèze zufolge derzeit weitere
randomisierte, kontrollierte Studien in Vorbereitung – so auch eine
Behandlungsstudie in Deutschland, für die die Deutsche
Forschungsgemeinschaft bereits entsprechende Fördergelder zur Verfügung
gestellt hat.

Diesen Artikel so zitieren: Kurzsichtigkeit bei Kindern lässt sich
aufhalten: Augentropfen mit Atropin werden zunehmend off-label
verschrieben – Medscape – 11. Okt 2019.

Quelle ist von deutsch.medscape.com