Menschen mit dem Syndrom gelten oft als besonders begabte Wunderkinder – so wie die Klimaaktivistin. Doch viele haben eine falsche Vorstellung von den Symptomen. Von Vanessa Köneke
Veröffentlicht am 18. Oktober 2019
Klimaaktivistin Greta Thunberg bei ihrer Rede bei der UN-Klimakonferenz in New York.
Klimaaktivistin Greta Thunberg bei ihrer Rede auf der UN-Klimakonferenz in New York. (Foto: Jason Decrow/AP/dpa)
Als Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel in New York eine Wutrede hielt, waren manche Zuschauer überrascht. Ist Greta nicht Autistin? Und können diese überhaupt Gefühle zeigen? Bei Twitter beschreibt sich Thunberg selbst als „16-jährige Klima- und Umweltaktivistin mit Asperger“. Tatsächlich wirkte sie zuvor fast immer rational kühl.
Für Millionen Menschen ist die Schwedin zu einem Vorbild geworden. Für andere zu einer Hassfigur. Gegner beleidigen sie auch wegen ihres Autismus. Greta sei ein Roboter, gehöre in die Psychiatrie, projiziere ihre Probleme auf den Klimawandel.
Das öffentliche Bild von Greta schwankt zwischen „Wunderkind“ und „krankhaft“. Um Autismus und das Asperger-Syndrom ranken sich einige Mythen. In manchen Aspekten sind sich sogar Wissenschaftler noch nicht einig.
Empathie und Autismus schließen sich nicht aus
Autismus bedeutet laut den diagnostischen Kriterien zum einen, dass Betroffene in sozialen und kommunikativen Fähigkeiten eingeschränkt sind. Ihnen fällt es beispielsweise schwer, Gesichtsausdrücke zu deuten oder Ironie zu verstehen. Greta Thunberg nennt bei Facebook ihre mangelnden Fähigkeiten im „Socializing“ als entscheidenden Grund dafür, anfangs alleine protestieren gegangen zu sein.
„Wenn ich „normal“ und gesellig gewesen wäre, hätte ich mich einer Organisation angeschlossen oder selbst eine gestartet.“
Das zweite entscheidende Merkmal für Autismus ist, dass Betroffene zu Monotonie neigen. Sie haben etwa den Wunsch nach Ritualen, den immer gleichen Speisen oder Themen. Meist leiden sie auch unter starken Sinneseindrücken: Licht und Geräusche erscheinen ihnen extrem hell beziehungsweise laut.
Autisten wird nachgesagt, sich nicht in andere Menschen hineinfühlen zu können.
„Dass autistische Menschen keine Empathie haben, ist nicht der Fall“,
widerspricht der Autismusforscher Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge. Viele hätten zwar Schwierigkeiten, sich gedanklich in Mitmenschen hineinzuversetzen. Aber Empathie habe – neben diesem kognitiven – auch einen affektiven Teil, das heißt eine emotionale Reaktion auf andere Menschen.
Inselbegabungen sind in vielen Bereich gefragt
Während Autisten in sozialen Bereichen meist Probleme haben, gelten sie in anderen manchmal als wahre Genies. Speziell Asperger-Autisten werden häufig als hochintelligent porträtiert. Etwa im Film Rain Man, in dem Dustin Hoffman einen Autisten spielt, dessen enorm gutes Gedächtnis sich beim Kartenspiel auszahlt.
Manche Unternehmen beschäftigen sogar speziell Autisten, weil sie als besonders detailorientiert gelten. Das kann etwa bei Fehleranalysen im IT-Bereich hilfreich sein.
„Autistische Talente können in allen Bereichen auftauchen, in denen Muster analysiert werden können“,
so Baron-Cohen. Also zum Beispiel auch in der Musik.
Doch Menschen mit Autismus sind längst nicht immer hochbegabt – auch nicht alle Asperger-Autisten. Außergewöhnliches Können ist meist eine Savant-Fähigkeit, das heißt eine Inselfähigkeit, die sich nur auf einen Bereich auswirkt. Und nur wenige Autisten sind Savants.
Die Intelligenz kann sehr unterschiedlich sein. Ärzte und Psychologen unterschieden lange verschiedene Autismus-Varianten anhand des Intelligenzgrades. Menschen mit Asperger oder sogenanntem hochfunktionierendem Autismus haben eine höhere Intelligenz als Menschen mit „klassischem“ Autismus, dem Kanner-Autismus. Leo Kanner hatte das Autismus-Krankheitsbild 1943 erstmals beschrieben. Ein Jahr später veröffentlichte Hans Asperger seine Habilitation, die der anderen Autismusvariante einen Namen gab. Doch höhere Intelligenz bedeutet nicht gleich hochbegabt.
Ab wann spricht man von „Autismus“?
Inzwischen ist sogar umstritten, ob es das Asperger-Syndrom überhaupt gibt. Im aktuellen Diagnostikkatalog, nach dem Psychiater Erkrankungen einteilen, taucht das Syndrom nicht mehr auf. In dem sogenannten DSM V (der fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wurden 2013 die bisher getrennten Krankheitsbilder zur sogenannten Autismusspektrumsstörung zusammengefasst. Seitdem gilt Autismus als ein Kontinuum.
Die Geschichte des Asperger-Syndroms wäre damit kurz: Erst 1980 war es in den Diagnosekatalog aufgenommen worden. Doch die Diskussionen dauern an. Wissenschaftler untersuchen weiter, ob Unterschiede zwischen Autisten nur Nuancen sind oder auf separate Krankheiten hinweisen. Autismus-Experte Simon Baron-Cohen rät, einen Oberbegriff mit Subtypen zu haben – wie bei Diabetes Typ-1 und Typ-2. So ließe sich unter anderem besser verstehen, welche Hilfsangebote wem helfen.
Auch Betroffene sind sich nicht einig. Manche sehen Autismus als Behinderung. Andere sprechen sich unter dem Stichwort Neurodiversität dafür aus, dass sie nur eine andere Art der Wahrnehmung hätten. Wo Autismus anfängt, ist in der Tat unklar. Nach den neuen Diagnose-Kriterien würden viele Asperger-Autisten gar nicht mehr als Autisten gelten – laut einer Meta-Analyse träfe das auf jeden Vierten zu.
Für viele Autisten ist die Diagnose Teil ihrer Identität. Auch Greta Thunberg schrieb bei Twitter:
„Ich habe Asperger und das bedeutet, dass ich manchmal ein bisschen anders als die Norm bin. Und – unter den richtigen Umständen – kann Anderssein eine Superkraft sein.“
Ob Autismus Fluch oder Segen ist, dürfte noch länger umstritten bleiben. Der Begriff Asperger-Autismus ist aber aus einem anderen Grund in Ungnade gefallen: Hans Asperger (1906-1980) soll am Euthanasie-Programm der Nazis beteiligt gewesen sein. Wissenschaftler raten schon länger, Erkrankungen nicht nach Personen zu benennen.
(RP/dpa)
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