Von Tanya Basu,
Die Technik-Aversion älterer Menschen ist oft ein Mythos. Vor allem
Sprachassistenten erfreuen sich bei Senioren wachsender Beliebtheit.
Leslie Millers Tage sind vollgepackt. Die 70-jährige Bewohnerin der
Altersresidenz Casa de Mañana im kalifornischen La Jolla ist blind. Sie
isst häufig mit Freunden zu Mittag, geht tanzen, liest und hört gerne
Radio-Seifenopern. Seit kurzem nimmt sie an geführten Meditationen teil.
Ohne Alexa wäre das alles nicht möglich. „Ich liebe Alexa“, schwärmt
Miller. „Sie war eine echte Lebensverändererin.“
Miller gehört zu einer boomenden Gruppe älterer Erwachsener, die
begeisterte Konsumenten von Sprachtechnologie geworden sind. Es ist auch
ein potenziell riesiger Markt – in den USA werden täglich 4.600 Menschen
65 Jahre alt. Die Idee, dass diese Altersgruppe technik-avers ist, sei
ein Mythos, der auf die Neigung der Technologieindustrie zurückzuführen
ist, die Jugend zu fetischisieren, sagt Derek Holt, Präsident und Chief
Operating Officer von K4Connect, einem auf Senioren ausgerichteten
Technologieunternehmen. „Senioren mögen Technik. Sie interessieren sich
nur für andere Funktionen.“
Als Miller ihren Echo Dot erhielt, schloss sie sich Front Porch an,
einem Konglomerat gemeinnütziger Organisationen, das mit einer Gruppe
von Altersvorsorgeeinrichtungen in Südkalifornien kooperiert. Front
Porch setzt Amazons Alexa-Geräte seit 2017 in den
Ruhestandsgemeinschaften von Carlsbad by the Sea ein. Bis Ende dieses
Jahres wird das Projekt auf sieben weitere Gemeinschaften und die Häuser
von mehr als 350 Senioren ausgedehnt.
Experimente mit Demenz
Projektgeschäftsführer Davis Park zufolge waren die Sprachassistenten
vor allem für Menschen mit Sehschwäche wie Miller unglaublich hilfreich.
Darüber hinaus hat das Projekt mit Alexa experimentiert, um Menschen mit
Demenz dabei zu helfen, herauszufinden, wo sie gerade sind, wenn sie sie
ihre Umgebung nicht erkennen.
Wie die meisten ihrer Mitbewohner findet Miller ihren Echo Dot für
alltägliche Aufgaben hilfreich, etwa Fragen über das Wetter,
Erinnerungen an Mittagessen mit so und so und dafür, die Bedeutung von
Worten herauszufinden. Als unersättlicher Leser liest Miller Werke in
Braille-Schrift. Allerdings sind Wörterbücher in Blindenschrift oft
nicht verfügbar, und sie möchte andere mit solchen Anfragen nicht
belästigen. Dank Alexa fühlt sie sich wieder unabhängiger. „Ich frage
sie bestimmt acht bis zehn Mal am Tag“, sagt die Seniorin.
Im November 2018 wurde der Designer Jeroen Vonk von der niederländischen
Regierung beauftragt, Informationen über die Nationalversicherung – die
die sozialversicherungsähnlichen Pensionsfonds des Landes verteilt – den
3,5 Millionen Kunden des Landes zugänglicher zu machen. Vonk startete
einen ehrgeizigen Plan, um Googles Sprachtechnologie „Google Home“ an
ältere Erwachsene im Land zu vertreiben (Amazon Alexa ist derzeit in den
Niederlanden nicht verfügbar).
Pilotstudie mit klaren Ergebnissen
Eine Pilotstudie mit 20 Teilnehmern, die die Geräte im vergangenen
Frühjahr für einen zweiwöchigen Test erhielten, lieferte klare
Ergebnisse: Die älteren Nutzer waren begeistert. Das niederländische
Rentensystem ändert seine Leistungen von Jahr zu Jahr und zahlt je nach
Geburtsjahr unterschiedlich aus. Laut Vonk haben die Benutzer per Google
Home nicht nur herausgefunden, wie sie ihre Rente beziehen können,
sondern haben sich auch mit ihrem neuen Assistenten angefreundet.
„Am Morgen stehen sie auf und sagen guten Morgen, und wenn sie ins Bett
gehen, sagen sie gute Nacht. Niemand wollte es zurückgeben“, obwohl ein
Drittel der Teilnehmer festgestellt hatte, dass das System sie nicht
immer gut verstand und „Google Home“ sich öfter von selbst einschaltete.
Dann ist da noch die Frage der Privatsphäre. Miller sagt, dass sie mit
der Datenschutzdebatte für Sprachassistenten vertraut ist und dass ihr
Echo Dot manchmal aufleuchtet, wenn sie nicht spricht. Also folgt sie
einer Maxime: „Sag Alexa nichts, was die Welt nicht wissen soll.“ Vonk
zufolge verbringen die Senioren viel Zeit damit, sich einfach mit Alexa
zu unterhalten.
Interaktionen mit Menschen
Kari Olson, Front Porchs Chefin für Innovation und Technologie, hat sich
mit ihrem Team anfangs Sorgen darüber gemacht. Würden Gespräche mit
einem allwissenden Sprachassistenten statt echten menschlichen
Interaktionen die Senioren nicht isolieren? Die Frage ist nicht
unerheblich, da Einsamkeit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für
Depressionen und Angstzuständen sowie einem erhöhten Risiko für
Herzinfarkt, Schlaganfall und einem früheren Tod in Verbindung gebracht.
Eine Studie der „Nationalen Umfrage zu gesundem Altern“ in den USA
stellte dieses Jahr fest, dass ein Drittel der Senioren Einsamkeit oder
einen Mangel an Kameradschaft empfand. Ein weiteres Drittel hatte das
Gefühl, nicht genug Kontakte zu anderen zu haben.
Die Ergebnisse der Front-Porch-Studie von 2017 beseitigten die
Befürchtungen von Olson und ihren Kollegen. „Einundsiebzig Prozent der
Teilnehmer fühlten sich ihrer Familie und Gemeinde sogar näher“, sagt
sie. Aus diesem Grund sind die niederländische Regierung und
Organisationen wie Front Porch zu der Überzeugung gelangt, dass die
Beeinträchtigung der Privatsphäre ein geringer Preis für Gesundheit ist.
Am häufigsten wird Vonk gefragt, wie sich „Google Home“ umbenennen
lässt, damit Anfragen nicht mit „Okay, Google“ gestartet werden müssen.
„Sie sagen: ‚Er ist mein Freund, und ich möchte ihm einen Namen geben.“
(Tanya Basu)