Boombranche Hörakustik: Von der Smartphone-App in den Gehörgang

3,5 Millionen Menschen in Deutschland tragen inzwischen Hörhilfen. Diese werden immer kleiner und bieten mehr Features. Von Michael Donhauser
Veröffentlicht am 23. Oktober 2019
Manche Hörgeräte lassen sich per App steuern. Für solche Zusatz-Features müssen die Besitzer in der Regel aber selbst zahlen.
Manche Hörgeräte lassen sich per App steuern. Für solche Zusatz-Features müssen die Besitzer in der Regel aber selbst zahlen. (Foto: Alexander Heinl/dpa-tmn)
Im „Tatort“ hört er manchmal nur widerwillig auf seine Kollegen. Im echten Leben hört Miroslav Nemec alias „Tatort“-Kommissar Ivo Batic wieder super, wie er sagt. Seit zwei Monaten trägt der 65 Jahre alte Schauspieler ein Hörgerät. Nemec ist damit einer von geschätzt 5,4 Millionen Menschen in Deutschland, die ein Hörproblem haben. Über drei Millionen davon sind durch Hörakustiker versorgt. Hersteller, Akustiker und Kunden aus aller Welt treffen sich seit Mittwoch in Nürnberg. Die Europäische Union der Hörakustiker (EUHA) hat zum weltweit größten Branchentreffen mit Messe und Kongress geladen. Mehr als 150 Aussteller aus über 20 Ländern kamen.
„Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland rund 1,35 Millionen Hörgeräte angepasst“,
sagt Dirk Köttgen vom Präsidium der EUHA. Im laufenden Jahr wird eine leichte Steigerung erwartet. Bei Kassenpatienten zahlt die gesetzliche Versicherung knapp 800 Euro für ein Hörgerät – und übernimmt für sechs Jahre den Service. Private Zuzahlungen sind nach oben offen – je nach Design und technischer Ausstattung. 1,5 Milliarden Euro setzt die Branche in Deutschland pro Jahr um.
Die Krankenkassen sehen das nicht ganz so positiv. Der GKV-Spitzenverband geht zwar von einer hervorragenden Versorgung in Deutschland aus, mit hoher Zufriedenheitsrate von deutlich über 80 Prozent auch bei den gesetzlich Versicherten. „Wir fragen uns aber,  warum zwei Drittel unserer Versicherten Mehrkosten für ihre Hörgeräte zahlen. Hier gilt es, genauer nach den Ursachen für Mehrkosten zu fragen“, sagt GKV-Vorstand Gernot Kiefer. Im Schnitt würden – bei Versorgung beider Ohren – 1.169 Euro zugezahlt.
Goldene Zeiten stehen bevor
Die Branche steht wirtschaftlich solide da. Dass das auch in Zukunft so bleibt, dafür sorgt nicht nur eine sich ständig selbst überlebende technische Erneuerung, sondern auch die demografische Entwicklung.  „Unsere Kunden sind im Durchschnitt 70 Jahre alt“, sagt Köttgen.
Rein statistisch gesehen stehen der Branche die wahrhaft Goldenen Zeiten noch bevor. Die Zahl der Menschen im Hörgeräte-Alter soll Statistiken zufolge in Deutschland noch deutlich steigen. Sind es derzeit ungefähr 16 Millionen Menschen von Ende 60 aufwärts, werden es 2060 über 20 Millionen sein, errechneten Demografen. Die Hörakustiker haben gut damit zu tun, die Versorgung auf dem derzeit hohen Niveau halten zu können. Die Ausbildungsquote in den 6.600 Meisterbetrieben mit 15.000 Beschäftigten beträgt derzeit nach Verbandsangaben 20 Prozent – das ist doppelt so hoch wie im Handwerk insgesamt. Ungefähr die Hälfte der 3.200 Hörakustiker-Azubis in Deutschland haben Abitur, der Frauenanteil ist überdurchschnittlich hoch.
Weg vom klobigen, grauen Kästchen
Technologisch hat das Hörgerät inzwischen längst die Zeiten des hässlichen, grauen Kästchens hinter dem Ohr hinter sich gelassen. Es wäre vielleicht zu viel, selbst modernste Hörsysteme als hip zu bezeichnen. Aber Tatsache ist auch: Die Produkte meist kleiner,  hochtechnologisierter Mittelständler können viel mehr und sind weitaus ausgefeilter, als die Geräte, die sich junge Leute freiwillig ins Ohr klemmen.
„Man muss nicht einmal in die Hosentasche greifen“,
sagt etwa der Chef-Audiologe des schwäbischen Herstellers Phonak, Marco Faltus. Nur per Tastendruck am Ohr werden etwa Telefongespräche oder das Fernsehprogramm direkt ins Hörsystem gespielt. Viele Hersteller bieten Geräte an, die mit fast allen gängigen Smartphones kompatibel sind.
Für den Small-Talk in der Kneipe mit viel Hintergrundlärm hat Phonak eine Neuheit im Angebot: Eine kleine Sprechmuschel mit sechs Mikrofonen, die sich immer auf den jeweiligen Sprecher ausrichten. Damit soll ein Kernproblem beim Hörgerät angegangen werden: „Sobald ich weiter weg bin vom Sprecher, habe ich Schwierigkeiten“, beschreibt Faltus.
Hohe Zufriedenheit, aber Luft nach oben
Die Zufriedenheit mit Hörgeräten in Deutschland ist groß. Eine Studie der gesetzlichen Krankenversicherer hat ergeben, dass mehr als 90 Prozent der Betroffenen eine deutliche Verbesserung spüren, sobald sie ein Hörgerät haben. Aber: 43 Prozent wünschen sich auch eine noch bessere Qualität beim Telefonieren, 41 Prozent beim Fernsehen. „Unsere Zielgruppe sieht sehr viel fern“, sagt Dirk Köttgen.
Vermutlich sehen sie da auch Miro Nemec, den Verbrecherjäger, vonjetzt an mit Hörgerät. „Es ist viel mehr, als das, was man früher akustisch erlebt hat“, sagt er über seine ersten Erfahrungen.
(RP/dpa)
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