Massive Versorgungsengpässe in Kinderkliniken

Viele Kinderkliniken operieren laut dem ARD-Magazin Kontraste jenseits ihrer Kapazitätsgrenzen – insbesondere in der Intensivmedizin. Oft fehlt es an Personal. Die Folgen können für die Betroffenen tödlich sein.
Von Ursel Sieber, Lisa Wandt, Marcus Weller, rbb
Die Versorgungsengpässe in deutschen Kinderkliniken sind massiv. So massiv, dass Kinder in Lebensgefahr geraten oder tatsächlich sterben können. Dieses dramatische Bild zeichnen aktuelle Recherchen des ARD-Magazins Kontraste.
Schwerkranke Kinder Hunderte Kilometer transportiert
Sogar in einer Großstadt wie München können die Versorgungsengpässe lebensbedrohliche Ausmaße annehmen: Das mussten erst kürzlich die Eltern der schwerkranken Frieda Zattler erleben: In ganz München fand sich kein einziges Bett auf einer Intensivstation. Nach einer mehrstündigen Odyssee kamen sie schließlich in Augsburg unter, 80 Kilometer von München entfernt – kein Einzelfall.
Auch der Direktor der Kinderklinik der Berliner Charité, Prof. Marcus Mall, schildert im Kontraste-Interview, wie Ärzte oft stundenlang nach Betten für schwer kranke Kinder suchen, um dann die kleinen Patienten kilometerweit ins Umland zu transportieren – in Einzelfällen sogar bis ins 220 km entfernte Rostock.
Kliniken fehlt Personal
Dabei sind genügend Intensivbetten vorhanden – nur keine Pflegekräfte, um das kranke Kind zu versorgen. Deshalb werden Intensivbetten für Kinder in letzter Zeit immer öfter auch „wegen Personalmangels“ gesperrt. Rund 20 Prozent seiner Intensivbetten stünden deshalb häufig gar nicht zur Verfügung, so Mall.
„Die schlimmste Auswirkung dieses Missstandes ist, dass Kinder, die eigentlich auf eine Intensivstation gehören, keine Kapazität finden, und versterben“, sagt Alex Rosen, Vorstand von „Ärzte in sozialer Verantwortung“, der selbst Leiter einer großen Kindernotaufnahme ist. „Ich fürchte, an immer mehr Kinderkliniken kommt es zu folgender Situation:  Es kommen Anfragen von anderen Krankenhäusern: Wir haben hier ein Kind, es braucht eure Spezialisierung an Intensivstation. Und wir müssen sagen: Ruft morgen nochmal an. Und am nächsten Tag rufen wir dann an und dann heißt es: Das Kind hat leider die Nacht nicht geschafft.“
Sparzwang durch Fallpauschalen
2004 wurde unter der Bundesregierung das neue Abrechnungssystem mit Fallpauschalen eingeführt. Gespart wurde seitdem vor allem bei der Pflege: Die Zahl der Kinderschwestern und -pfleger sank von etwa 40.200 auf rund 37.500 im Jahr 2017 – während die Zahl der Fälle im selben Zeitraum anstieg.
Das bedeutet: Immer weniger Pflegekräfte müssen sich in immer kürzerer Zeit um immer mehr Kinder kümmern. Verschärfend kam hinzu, dass die Krankenhäuser einem Wettbewerbsdruck ausgesetzt wurden und auch öffentliche Häuser Gewinne schreiben sollten.
Fallpauschale
Die Fallpauschale soll die Vergütung von Leistungen im Gesundheitssystem vereinfachen und begrenzen, indem sie einen festen Betrag pro Behandlung festlegt – unabhängig davon, wie aufwändig die Behandlung wirklich ist. Nur in speziellen Fällen können Zusatzentgelte genehmigt werden.
Die Beträge für die einzelnen medizinischen Leistungen werden gemeinsam vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV), dem Verband der privaten Krankenversicherung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft in einem Fallpauschalen-Katalog festgelegt.
Kritiker sehen in dem Fallpauschalen-System einen Anreiz für Krankenhäuser, ökonomische Zwänge über das Wohl des Patienten zu stellen, wenn zum Beispiel der zugedachte Betrag für den realen Aufwand nicht ausreicht.
Politiker uneinig über Lösung
Der SPD-Politiker Karl Lauterbach, der das Fallpauschalensystem unter Rot-Grün mit eingeführt hat, räumt Fehler ein: „Die Situation spitzt sich zu. Wir müssen handeln und auch bereit sein, das Fallpauschalensystem in diesem Sektor aufzugeben“, so Lauterbach gegenüber Kontraste.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn äußerte sich gegenüber Kontraste eher vorsichtig: „Das ist ein möglicher Weg. Ich schaue aber auch, ob es im Fallpauschalensystem entsprechende Wege gibt“. Der Minister bestreitet das Problem aber nicht. Es sei unbestritten, dass der Aufwand bei Kindern höher ist. „Das muss sich natürlich auch abbilden.“
Die Kliniken beklagen, dass die Fallpauschalen den tatsächlichen Aufwand bei der Versorgung vor allem chronisch kranker Kinder nicht abbilden. Der reale Zeit- und Pflegeaufwand sei viel höher.
Qualifizierte Kräfte geben auf
Wie bedrohlich die Situation inzwischen ist, belegt auch eine aktuelle Studie der Universität Köln: Das Team um die Medizinethikerin Christiane Woopen führte 50 anonymisierte Interviews mit Pflegern und Ärzten aus Kinderkliniken in ganz Deutschland.
Die alltägliche Arbeitsverdichtung sei enorm, die Beschäftigten geraten in „ethische Konflikte“, weil sie „aus einer hohen ideellen Motivation“ heraus gute Medizin machen wollen,  den Anspruch aber so nicht mehr umsetzen können, sagt Woopen. Deshalb verlassen sogar qualifizierte und ursprünglich hoch motivierte Fachkräfte den Beruf – was den Mangel natürlich verschärft.
Kliniken bauen lieber lukrative Bereiche aus
Die Studie zeigt auch, dass das Fallpauschalensystem und der Wettbewerbsdruck falsche Anreize setzen: Die Kliniken konzentrieren sich auf Bereiche, die einträglich seien. Demnach existiert ein Überangebot mit Level-1-Zentren für Frühgeborene unter 1500 Gramm, weil Frühchen lukrativ seien. Bei chronisch kranken Kindern mit komplexen Erkrankungen herrsche dagegen teilweise „eine eklatante Unterversorgung“.  
Diesen und weitere Beiträge sehen Sie heute um 21.45 Uhr bei Kontraste im Ersten.
Über dieses Thema berichtet das Erste am 14. November 2019 um 21:45 Uhr in dem Magazin „Kontraste“.
Quelle ist von tagesschau.de