Ewald Benecken
Einige wenige Kilometer musste Joachim Bernau noch fahren, dann hätte er es
endlich geschafft, zu Hause bei seiner Frau und den beiden Kleinkindern zu
sein. Heute war ja Heiligabend und er freute sich schon so sehr auf die
bevorstehende Bescherung.
Sein Bruder, der nicht weit entfernt von seinem Haus wohnte, sollte am Abend
die Rolle des Weihnachtsmannes übernehmen. Auf der ohnehin meistens nur
wenig befahrenen Straße, auf welcher Joachim langsam durch eine Kurve fuhr,
gab es auch an diesem Tag nur sehr wenig Autoverkehr.
Im nächsten Augenblick begann es zu schneien. Zuerst fielen nur einzelne
Flocken, dann begann die weiße Pracht jedoch sehr dicht, lautlos und in
stetig größer werden Flocken niederzuschweben. Augenblicklich reduzierte
Joachim seine ohnehin schon sehr langsame Fahrt noch etwas mehr.
Plötzlich spürte er, dass sich sein Wagen nur noch schwer lenken ließ. Im
nächsten Moment schimpfte er lauthals: „So ein Mist“, und schlug verärgert
einmal mit der rechten Hand aufs Lenkrad. Ausgerechnet jetzt, so kurz vor
seinem Ziel, hatte sein Wagen einen platten Reifen. Inzwischen war es fast
achtzehn Uhr geworden. Nur zu gerne wäre er pünktlich nach Hause gekommen.
Heftiges Schneetreiben nahm ihm kurze Zeit später fast jede Sicht. Während
er den Wagen langsam weiter rollen ließ, hielt er nach einer Stelle
Ausschau, an der er den unvermeidlichen Reifenwechsel gefahrlos ausführen
könnte. Schließlich sah er eine Hofeinfahrt, die von einer einzelnen Laterne
nur schwach ausgeleuchtet wurde, fuhr dort hinein und stoppte direkt unter
der Laterne. Joachims Pkw war einschließlich des Kofferraums fast komplett
mit Geschenken für seine Kinder, seine Frau, seinen Bruder und dessen Frau,
seinen Eltern sowie für seine Schwiegereltern voll gepackt. Alle Geschenke
sollten nachher in den großen Sack, den sein Bruder bei der Bescherung auf
dem Rücken tragen würde, verstaut werden.
Verärgert stieg Joachim ein wenig hastig aus und begann sofort damit, die
Kartons aus dem Kofferraum auszuladen. Zunächst jedoch schaute er sich nach
einem Platz um, an dem er die vielen Pakete am besten hinlegen konnte. Bevor
er dann schließlich die ersten Pakete auf dem schmalen Grasstreifen neben
der Hofeinfahrt vorsichtig abstellte, zog er den roten Nikolausmantel, den
er sich von einem Bekannten für den heutigen Abend ausgeliehen hatte, zum
Schutz vor dem Schneetreiben hastig über und klappte zum Schluss die
Zipfelmütze hoch.
Nach nur höchstens zehn Minuten, hatte er den Reifen schon gewechselt und
begann soeben mit inzwischen eiskalt gewordenen Händen, die Pakete Stück für
Stück wieder einzuladen, als plötzlich, ein vielleicht vierjähriges Mädchen
neben ihm stand, ihn sehr erstaunt, mit großen Augen und offen stehendem
Mund fragend ansah. Nach ein paar Sekunden, während sie ihn bewundernd
anschaute, fragte sie sehr zögerlich und irgendwie bewundernd: „Bist…du…
der…Weihnachtsmann…?“
Sogleich huschte über Joachims Gesicht ein verlegenes Lächeln. Während er
noch überlegte, was er dem kleinen Mädchen entgegnen könnte, hörte er
urplötzlich einen Hund laut bellen, der sofort neben dem Mädchen stand und
ihn mit aufgestellten Nackenhaaren bedrohlich knurrend starr fixierte.
Augenblicklich legte die Kleine beruhigend die Hand zwischen die Ohren des
Hütehundes: „Ruhig, Hasso, das ist der Weihnachtsmann! Der tut uns ja gar
nichts.“
Sie redete beruhigend auf den Hund ein, der sich soeben hinsetzte, während
das Mädchen Joachim weiterhin mit großen Augen vertrauensvoll, staunend und
fragend anlächelte. Zwischenzeitlich war das Schneetreiben sehr viel dichter
geworden. Dicke Flocken lagen inzwischen auf den Haaren des Mädchens sowie
auf dem Fell des Hundes. Aber, bevor Joachim jedoch auf die Frage der
Kleinen eingehen konnte, kam schon ihre nächste: „Wo ist denn… dein
Schlitten… Weihnachtsmann?“
Erneut überlegte Joachim einen Moment zu lange, denn kaum dass die Stimme
der Kleinen verklungen war, hörte er eine aufgeregte Frauenstimme vom Haus
her laut rufen. Jasmiiin…Jasmiiin, wo bist du?“ Dann hatte die Frau das
Mädchen plötzlich erspäht und rief noch lauter: „Komm sofort hierher!
Sofort!“
Inzwischen war sie schon mit hastigen Schritten das kleine Stück über den
Plattenweg geeilt. „Das ist der Weihnachtsmann, Mama…“, empfing das Mädchen
freudestrahlend ihre Mutter und zeigte mit ausgestrecktem Arm und immer noch
weit geöffneten Augen auf den Weihnachtsmann. Die Bäuerin blieb
augenblicklich etwas unsicher lächelnd stehen und weil sie die Situation
sofort begriff, entgegnete sie auf der Stelle: „Das ist ja wunderbar, mein
Liebling. Doch der Weihnachtsmann hat jetzt leider keine Zeit mehr für dich
– mein Engel. Er muss gleich weiterfahren!“
Danach fasste sie lächelnd nach der Hand ihrer Tochter, drehte sich ein
wenig und sagte zu dem Hund: „Komm Hasso“, der sich auch sofort Schwanz
wedelnd erhob. Aber, die Kleine wehrte sich vehement dagegen, so mir nichts
dir nichts aus der Nähe des Weihnachtsmannes verschwinden zu müssen. Sie
wollte von ihm unbedingt etwas erfahren und diese Gelegenheit wollte sie auf
keinen Fall ungenutzt lassen. Deshalb stemmte sie sich mit all ihrer
kindlichen Kraft gegen die ziehende Hand ihrer Mutter. Schließlich merkte
die Bäuerin, dass sie so ihr Kind nicht davon abhalten konnte, erneut eine
Frage an den verlegen dreinschauenden jungen Mann zu stellen.
„Wo…ist…denn…dein…Schlitten…Weihnachtsmann?“, fragte Jasmin, nachdem sie
gemerkt hatte, dass ihr Widerstand von Erfolg gekrönt war. Währenddessen sie
die Brauen hochzog und die Lippen ein wenig zusammen kniff, huschte übers
Antlitz der Bäuerin im selben Moment ein etwas verlegenes Lächeln. Sie war
anscheinend auf die Antwort nicht weniger gespannt als ihre wissbegierige
Tochter.
Ohne zu zögern entgegnete Joachim: „Ja, weißt du, Jasmin, meinen Schlitten
kann ich nur mitnehmen, wenn schon ausreichend Schnee auf den Straßen liegt.
Und wie du ja sehen kannst, sind noch nicht genügend Flocken vom Himmel
gefallen!“
„Das versteh ich, Weihnachtsmann“, erwiderte die Kleine mehrmals hastig
nickend wie aus der Pistole geschossen und strahlte Joachim weiterhin
vertrauensvoll an.
„Nun müssen wir aber rasch ins Haus gehen, mein kleiner Schatz! Du hast ja
deinen Mantel gar nicht angezogen! Komm, schnell, sonst wirst du dich
erkälten und musst vielleicht Weihnachten im Bett liegen“, sagte die Bäuerin
hastig in die entstandene Stille hinein. Nach diesen Worten drehte sie sich
um und zog an der Hand der Kleinen.
Einsichtig nickte Jasmin und folgte dann brav ihrer Mutter. Während Hasso
Schwanz wedelnd neben beiden her trottete, jubelte Jasmin mit ihrer
glockenklaren Stimme: „Jahaaa, ich hab den Weihnachtsmann gesehen!“ Dann
lachte sie laut, drehte sich in kurzen Abständen immer wieder um und winkte
dem Weihnachtsmann fröhlich lächelnd zu.
Noch einmal hörte Joachim, wie das kleine Mädchen voller Begeisterung rief:
„Jahaaa, ich hab den Weihnachtsmann gesehen!“ Im nächsten Moment verstummte
die hell klingende Stimme. Eine seltsame Stille umgab Joachim danach.
Mit einem sehr grüblerischen Gesicht zog er den roten Mantel aus, legte ihn
auf eines der oberen Pakete, schloss die Heckklappe, setzte sich in den
Wagen, startete den Motor und fuhr lächelnd, jedoch sehr nachdenklich
geworden im dichten Schneetreiben langsam nach Hause …