Rudolph, das Rentier mit der roten Nase

Hoch oben im Norden, wo die Nächte dunkler und länger und der Schnee viel
weißer ist als in unseren Breitengraden, sind die Rentiere beheimatet. In
jedem Jahr geht der Weihnachtsmann dort auf die Suche nach den stärksten und
schnellsten Tieren, um seinen gewaltigen Schlitten durch die Luft zu
befördern. In dieser Gegend lebte eine Rentierfamilie mit ihren fünf
Kindern. Das Jüngste hörte auf den Namen Rudolph und war ein besonders
lebhaftes und neugieriges Kind, das seine Nase in allerlei Dinge steckte.
Tja, und diese Nase hatte es wirklich in sich. Immer, wenn das kleine
Rentier-Herz vor Aufregung ein bisschen schneller klopfte, leuchtete sie so
rot wie die glühende Sonne kurz vor dem Untergang.

Egal, ob er sich freute oder zornig war, Rudolphs Nase glühte in voller
Pracht. Seine Eltern und Geschwister hatten ihren Spaß an der roten Nase,
aber schon im Rentierkindergarten wurde sie zum Gespött der vierbeinigen
Racker. „Das ist der Rudolph mit der roten Nase“, riefen sie und tanzten um
ihn herum, während sie mit ihren kleinen Hufen auf ihn zeigten. Und dann
erst in der Rentierschule! Die Rentier-Kinder hänselten ihn wo sie nur
konnten.

Mit allen Mitteln versuchte Rudolph seine Nase zu verbergen, zum Beispiel
indem er sie mit schwarzer Farbe übermalte. Spielte er mit den anderen
verstecken, freute er sich, dass er diesmal nicht entdeckt worden war. Und
im gleichen Moment begann seine Nase so zu glühen, dass die Farbe
abblätterte. Ein anderes Mal stülpte er sich eine schwarze Gummikappe
darüber. Nicht nur, dass er durch den Mund atmen musste. Als er auch noch zu
sprechen begann, klang es als säße eine Wäscheklammer auf seiner Nase. Seine
Mitschüler hielten sich die Rentier-Bäuche vor Lachen, aber Rudolph lief
nach Hause und weinte bitterlich. „Nie wieder werde ich mit diesen Blödhufen
spielen“, rief er unter Tränen, und die Worte seiner Eltern und Geschwister
konnten ihn dabei nur wenig trösten.

Die Tage wurden kürzer und wie in jedem Jahr kündigte sich der Besuch des
Weihnachtsmannes an. In allen Rentier-Haushalten wurden die jungen und
kräftigen Burschen herausgeputzt. Ihre Felle wurden so lange gestriegelt und
gebürstet bis sie kupfernfarben schimmerten, die Geweihe mit Schnee geputzt
bis sie im fahlen Licht des nordischen Winters glänzten. Und dann war es
endlich soweit.

Auf einem riesigen Platz standen Dutzende von Rentieren, die ungeduldig und
nervös mit den Hufen scharrten und schaurig-schöne Rufe ausstießen, um die
Mitbewerber zu beeindrucken. Unter ihnen war auch Rudolph, an Größe und
Kraft den anderen Bewerbern zumeist deutlich überlegen. Pünktlich zur
festgelegten Zeit landete der Weihnachtsmann aus dem nahegelegenen
Weihnachtsdorf, seiner Heimat, mit seinem Schlitten, der diesmal nur von
Donner, dem getreuen Leittier gezogen wurde.

Leichter Schnee hatte eingesetzt und der wallende rote Mantel war mit weißen
Tupfern übersät. Santa Claus machte sich sofort an die Arbeit, indem er
jedes Tier in Augenschein nahm. Immer wieder brummelte er einige Worte in
seinen langen weißen Bart. Rudolph kam es wie eine Ewigkeit vor. Als die
Reihe endlich bei ihm angelangt war, glühte seine Nase vor Aufregung fast so
hell wie die Sonne. Santa Claus trat auf ihn zu, lächelte freundlich und
schüttelte den Kopf. „Du bist groß und kräftig. Und ein hübscher Bursche
dazu „, sprach er, „aber leider kann ich dich nicht gebrauchen. Die Kinder
würden erschrecken, wenn sie dich sähen.“

Rudolphs Trauer kannte keine Grenzen. So schnell er konnte, lief er hinaus
in den Wald und stampfte brüllend und weinend durch den tiefen Schnee. Die
Geräusche und das weithin sichtbare rote Licht lockten eine Elfe an.
Vorsichtig näherte sie sich, legte ihre Hand auf seine Schulter und fragte :
„Was ist mit dir?“

„Schau nur, wie meine Nase leuchtet. Keiner braucht ein Rentier mit einer
roten Nase!“ antwortete Rudolph. „Das kenne ich“, sprach die Elfe, „ich
würde gerne im Weihnachtsdorf mit den anderen Elfen arbeiten. Aber immer,
wenn ich aufgeregt bin, beginnen meine Ohren zu wackeln. Und wackelnde Ohren
mag Santa Claus nicht.“ Rudolph blickte auf, wischte sich mit den Hufen die
Tränen aus den Augen und sah eine bildhübsche Elfe, deren Ohren im Rhythmus
eines Vogelschlags hin und her wackelten. „Mein Name ist Herbie“, sagte sie
schüchtern. Und während sie sich so in die Augen sahen, der eine mit einer
leuchtend roten Nase, die andere mit rhythmisch wackelnden Ohren, prusteten
sie urplötzlich los und lachten bis ihnen die Bäuche weh taten. An diesem
Tag schlossen sie Freundschaft, schwatzten bis in die Nacht und kehrten erst
am frühen Morgen heim.

Mit Riesenschritten ging die Zeit auf Weihnachten zu. Herbie und Rudolph
trafen sich in dieser Zeit viele Male im Wald. Alle waren mit den
Vorbereitungen für das Weihnachtsfest so beschäftigt, dass sie nicht
bemerkten, wie sich das Wetter von Tag zu Tag verschlechterte.

Am Vorabend des Weihnachtstages übergab die Wetterfee Santa Claus den
Wetterbericht. Mit sorgenvoller Miene blickte er zum Himmel und seufzte
resigniert : „Wenn ich morgen anspanne, kann ich vom Kutschbock aus noch
nicht einmal die Rentiere sehen. Wie soll ich da den Weg zu den Kindern
finden?“ In dieser Nacht fand Santa Claus keinen Schlaf. Immer wieder
grübelte er über einen Ausweg nach. Schließlich zog er Mantel, Stiefel und
Mütze an, spannte Donner vor seinen Schlitten und machte sich auf den Weg
zur Erde. „Vielleicht finde ich dort eine Lösung“, dachte er. Während seines
Fluges begann es in dichten Flocken zu schneien. So dicht, dass Santa Claus
kaum etwas sehen konnte.

Lediglich ein rotes Licht unter ihm leuchtete so hell, dass ihm der Schnee
wie eine riesige Menge Erdbeereis vorkam. Santa Claus liebte Erdbeereis.
„Hallo“, rief er, „was hast du für eine hübsche und wundervolle Nase! Du
bist genau der, den ich brauche. Was hältst du davon, wenn du am
Weihnachtstag vor meinem Schlitten herläufst und mir so den Weg zu den
Kindern zeigst?“

Als Rudolph die Worte des Weihnachtsmannes hörte, fiel ihm vor Schreck der
Tannenbaum zu Boden und seine Nase glühte so heftig wie noch nie in seinem
Leben. Vor lauter Freude fehlten ihm die Worte. Erst langsam fand er seine
Fassung wieder. „Natürlich furchtbar gerne. Ich freu’ mich riesig.“ Doch
plötzlich wurde er sehr traurig. „Aber wie finde ich den Weg zurück zum
Weihnachtsdorf, wenn es so dicht schneit?“ Im gleichen Moment, in dem er die
Worte aussprach, kam ihm eine Idee. „Bin gleich wieder da“, rief er, während
er schon in schnellem Galopp auf dem Weg in den Wald war und einen
verdutzten Santa Claus zurückließ. Wenige Minuten später kehrten ein Rentier
mit einer glühenden Nase und eine Elfe mit wackelnden Ohren aus dem Wald
zurück. „Sie wird uns führen, Santa Claus“, sagte Rudolph voller Stolz und
zeigte auf Herbie. „Mit ihren Ohren hält sie uns den Schnee vom Leibe. Und
sie kennt den Weg.“ „Das ist eine prachtvolle Idee“, dröhnte Santa Claus.
„Aber jetzt muss ich zurück. Auf morgen dann.“

Und so geschah es, dass Santa Claus am Weihnachtstag von einem Rentier mit
einer roten Nase und einer Elfe mit wackelnden Ohren begleitet wurde.
Rudolph wurde für seine treuen Dienste am nächsten Tag von allen Rentieren
begeistert gefeiert. Den ganzen Tag tanzten sie auf dem großen Marktplatz
und sangen dazu : „Rudolph mit der roten Nase, du wirst in die Geschichte
eingehen.“ Und es muss jemanden gegeben haben, der Santa Claus und seine
beiden Helfer beobachtet hat. Sonst gäbe es sie heute nicht, die Geschichte
von Rudolph mit der roten Nase.
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